Bundesverfassungsgericht

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Verbot der Frischzellenherstellung ist nichtig/ Bund hatte keine Regelungskompetenz

Pressemitteilung Nr. 18/2000 vom 16. Februar 2000

Beschluss vom 04. Februar 1999
1 BvR 420/97

Der Erste Senat des BVerfG hat im Verfahren "Frischzellen-Verordnung" auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 9. November 1999 folgendes entschieden:

§ 1 Abs. 1 und § 2 Abs. 2 der Verordnung über das Verbot der Verwendung bestimmter Stoffe zur Herstellung von Arzneimitteln, wonach es unter Strafandrohung verboten ist, bei der Herstellung von Arzneimitteln, die zur Injektion oder Infusion bestimmt sind, Frischzellen zu verwenden, ist nichtig. Der Bund war zu einer solchen Regelung nicht ermächtigt. Er ist nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG (Wortlaut siehe Anlage) nur befugt, die Herstellung solcher Arzneimittel zu regeln, die dazu bestimmt sind, in den Verkehr gebracht zu werden. Diese Befugnis umfasst nicht Regelungen über die von Ärzten praktizierte Behandlungsmethode, bei ihren Patienten selbst hergestellte Arzneimittel unmittelbar anzuwenden. So liegt der Fall aber hier: Die Beschwerdeführer (Bf) stellen die Frischzellen nur zum eigenen Gebrauch her und wenden sie an eigenen Patienten an. Das Merkmal "Inverkehrbringen" ist nicht gegeben.

I.

1. Die Frischzellen-Verordnung ist im März 1997 vom Bundesministerium für Gesundheit erlassen worden. Die Verordnung stützt sich auf § 6 Abs. 1 des Arzneimittelgesetzes (AMG; Wortlaut s. Anlage). Sie regelt u. a. das Verbot der Verwendung von Frischzellen und stellt einen hiergegen gerichteten Verstoß unter Strafe (§ 1 Abs. 1 und § 2 Abs. 2; Wortlaut s. Anlage).

2. Die Bf sind Ärzte. Sie bieten in von ihnen geführten privatärztlichen Sanatorien überwiegend oder ausschließlich zelltherapeutische Behandlungen an und injizieren ihren Patienten selbst hergestellte, aus Schafsfeten gewonnene Frischzellen. Ihre Vb richtete sich gegen das in § 1 der Frischzellen-Verordnung geregelte Herstellungsverbot. Die Bf rügen u.a. die Verletzung ihres Grundrechts auf Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG). Sie sind der Meinung, dem Bund fehle die Gesetzgebungs- kompetenz. Die Überwachung der ärztlichen Therapie sei ausschließlich Sache der Länder.

II.

Die Vb ist begründet. Das angegriffene Verbot, mit dem in die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit der Bf eingegriffen wird, ist nicht kompetenzgemäß erlassen. § 1 Abs. 1 und § 2 Abs. 2 der Frischzellen-Verordnung sind verfassungswidrig und nichtig. Die Verordnungs-Ermächtigung im AMG betrifft gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG nur den Arzneimittelverkehr.

Zur Begründung heißt es u.a.:

1. Das AMG ermächtigt den Verordnungsgeber (Bund), sowohl die Herstellung als auch das Inverkehrbringen von Arzneimitteln zu regeln. "Inverkehrbringen" bedeutet nach diesem Gesetz das Vorrätighalten zum Verkauf oder zu sonstiger Abgabe, das Feilhalten, das Feilbieten und die Abgabe an andere. "Abgabe" liegt nach dem AMG vor, wenn die Person, die das Arzneimittel herstellt, eine andere ist als die, die es anwendet.

In Rechtsprechung und Literatur besteht Einigkeit darüber, dass bei der Herstellung durch einen Arzt, der das von ihm hergestellte Arzneimittel selbst am Patienten anwendet oder in seinen unmittelbaren Einwirkungsbereich durch weisungsgebundene Hilfskräfte oder durch den Patienten selbst anwenden lässt, keine Abgabe in diesem Sinne vorliegt. Ärzte brauchen deshalb keine Herstellungserlaubnis, solange sie die von ihnen hergestellten Arzneimittel nicht aus der Hand geben. Wenn das Arzneimittel an die Patienten oder andere Ärzte weitergegeben wird und damit die Verfügungsgewalt über das Arzneimittel wechselt, ist hingegen nach dem AMG eine Herstellungserlaubnis erforderlich.

2. Die Reichweite der Ermächtigungsnorm im AMG richtet sich nach dem Kompetenztitel in Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG. Der Bund hat die (konkurrierende) Gesetzgebungskompetenz, soweit es um den Verkehr mit Arzneimittel im weitesten Sinne geht. Will er zur Optimierung des Gesundheitschutzes der Bevölkerung schon bei der Herstellung verkehrsfähiger Arzneimittel ansetzen, hält er sich so lange im Rahmen seiner Zuständigkeit, wie seine Regelung Arzneimittel betrifft, die zum Zwecke des Inverkehrbringens hergestellt werden.

a) Wenn ein Arzneimittel beispielsweise über Apotheken in den Verkehr gebracht werden soll, ist regelmäßig eine bundesweite Verbreitung angestrebt. Deshalb gibt es gute Gründe dafür, dass der Bund insoweit eine Befugnis zur konkurrierenden Gesetzgebung hat. Dies gilt jedoch nicht für vom Arzt hergestellte Arzneimittel, die er auch tatsächlich nicht an Dritte abgibt. Vielmehr finden solche Heilbehandlungen nur in einem begrenzten Wirkungskreis statt. Sie sind wesentlicher Bestandteil der ärztlichen Berufsausübungsfreiheit sowie Gegenstand der ärztlichen Sorgfaltspflicht und Verantwortung, für deren Überwachung die Länder zuständig sind.

b) Auch die historische Entwicklung spricht für eine in diesem Sinne eingeschränkte Kompetenz des Bundes: Ein Verkehr mit Arzneimitteln hat sich entwickelt, seitdem Apotheker nicht mehr als Hilfskräfte des Arztes auf Einzelanweisung Arzneimittel herstellen, und stattdessen Fertigarzneimittel den Markt bestimmen. Aufgrund entsprechender reichsgesetzlicher Vorschriften stand bei Erlaß des GG außer Zweifel, dass der Begriff des Verkehrs mit Arzneimitteln das Feilhalten und den Verkauf von Arzneien an den Endverbraucher betraf. Hingegen waren die Herstellung von Arzneien und ihre unmittelbare Anwendung durch Ärzte niemals Gegenstand reichsgesetzlicher Vorschriften über den Verkehr mit Arzneimitteln gewesen.

3. Das generelle Herstellungsverbot in der Frischzellen-Verordnung und die Strafandrohung sind somit nichtig. Ob ein Verbot der Herstellung von Frischzellen zur unmittelbaren Anwendung beim Patienten durch den Arzt aus Gründen des Gesundheitsschutzes gerechtfertigt ist, war hier nicht zu entscheiden.

Karlsruhe, den 16. Februar 2000

Anlage zur Pressemitteilung Nr. 18/2000 vom 16. Februar 2000

Artikel 74 GG (Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung)

(1) Die konkurrierende Gesetzgebung erstreckt sich auf folgende Gebiete: ...

19. die Maßnahmen gegen gemeingefährliche und übertragbare Krankheiten bei Menschen und Tieren, die Zulassung zu ärztlichen und anderen Heilberufen und zum Heilgewerbe, den Verkehr mit Arzneien, Heil- und Betäubungsmitteln und Giften;

§ 6 Abs. 1 AMG

Das Bundesministerium für Gesundheit (Bundesministerium) wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Verwendung bestimmter Stoffe, Zubereitungen aus Stoffen oder Gegenstände bei der Herstellung von Arzneimitteln vorzuschreiben, zu beschränken oder zu verbieten und das Inverkehrbringen von Arzneimitteln, die nicht nach diesen Vorschriften hergestellt sind, zu untersagen, soweit es geboten ist, um eine unmittelbare oder mittelbare Gefährdung der Gesundheit von Mensch oder Tier durch Arzneimittel zu verhüten.

Frischzellen-Verordnung

§ 1 Verbot der Verwendung von Frischzellen

(1) Es ist verboten, bei der Herstellung von Arzneimitteln, die zur Injektion oder Infusion bestimmt sind, Frischzellen zu verwenden. (2) bis (5) ...

§ 2 Straf- und Bußgeldvorschriften

(1) ... (2) Nach § 96 Nr. 1 des Arzneimittelgesetzes wird bestraft, wer entgegen § 1 Abs. 1 Frischzellen verwendet. (3) ...