Bundesverfassungsgericht

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Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen neuen Haftbefehl nach vorausgegangener Haftverschonungsentscheidung

Pressemitteilung Nr. 116/2006 vom 1. Dezember 2006

Beschluss vom 29. November 2006
2 BvR 2342/06

Dem Beschwerdeführer liegt zur Last, Steuern in Höhe von über 1,6 Millionen DM verkürzt zu haben. Wegen Fluchtgefahr erließ das Amtsgericht gegen ihn im Jahr 2002 einen Haftbefehl, der einige Tage später gegen Meldeauflagen, die Abgabe des Passes und die Hinterlegung einer Kaution außer Vollzug gesetzt wurde. Im Oktober 2006 verurteilte das Landgericht den Beschwerdeführer zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, da der Verteidiger des Beschwerdeführers Revision eingelegt hat. Außerdem erließ das Landgericht einen neuen, auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützten Haftbefehl, der noch am gleichen Tage vollstreckt wurde. Die Haftbeschwerde des Beschwerdeführers verwarf das Oberlandesgericht als unbegründet. Die Verurteilung stelle einen neu hervorgetretenen Umstand dar, der die erneute Verhaftung des Beschwerdeführers erforderlich mache (§ 116 Abs. 4 Nr. 3 Strafprozessordnung).

Die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg. Die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hob die Entscheidung des Oberlandesgerichts auf, da sie den Beschwerdeführer in seinem Freiheitsgrundrecht verletze. Der Umstand allein, dass nach der Haftverschonung ein (noch nicht rechtskräftiges) Urteil ergangen sei, könne den Erlass eines neuen Haftbefehls bei im Übrigen unveränderten Umständen nicht rechtfertigen. Die Sache wurde zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht zurückverwiesen. Dieses hat unter Beachtung des vom Bundesverfassungsgericht dargelegten Maßstabes erneut über die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft zu entscheiden. Liegen die Voraussetzungen für einen Widerruf der gewährten Haftverschonung nicht vor, wovon nach gegenwärtigem Erkenntnisstand auszugehen ist, muss der neue Haftbefehl aufgehoben und der Beschwerdeführer unverzüglich aus der Untersuchungshaft entlassen werden.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde: Nach § 116 Abs. 4 Nr. 3 Strafprozessordnung darf die Aussetzung des Vollzugs eines Haftbefehls nur dann widerrufen werden, wenn sich die Umstände im Vergleich zu der Beurteilungsgrundlage seit der Gewährung der Haftverschonung geändert haben. Ein nach der Haftverschonung ergangenes (nicht rechtskräftiges) Urteil kann im Einzelfall zwar geeignet sein, den Widerruf einer Haftverschonung durch Neuerlass eines Haftbefehls zu rechtfertigen. Dies setzt jedoch voraus, dass die später vom Tatrichter verhängte oder die von der Staatsanwaltschaft beantragte Strafe von der Prognose des Haftrichters erheblich zum Nachteil des Beschuldigten abweicht und sich die Fluchtgefahr dadurch ganz wesentlich erhöht. War dagegen zum Zeitpunkt der Außervollzugsetzung des Haftbefehls mit der später ausgesprochenen - auch höheren - Strafe zu rechnen und hat der Beschuldigte die ihm erteilten Auflagen gleichwohl korrekt befolgt, darf die Haftverschonung nicht durch Erlass eines neuen Haftbefehls widerrufen werden. Insoweit setzt sich der vom Angeklagten auf der Grundlage des Verschonungsbeschlusses gesetzte Vertrauenstatbestand als Ausprägung der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung durch.

Diesen Anforderungen werden die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht. Das Landgericht hat sich mit den Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO erst gar nicht befasst. Die Widerrufsvoraussetzungen einer Haftverschonungsentscheidung können jedoch nicht dadurch umgangen werden, dass kurzerhand ein neuer Haftbefehl erlassen wird, ohne den oben beschriebenen verfassungsrechtlichen Rahmen zu beachten. Der Begünstigte einer Haftverschonungsentscheidung hat grundsätzlich Anspruch darauf, die Rechtskraft des Urteils in Freiheit zu erwarten. Das Oberlandesgericht hat einseitig auf die Höhe der verhängten Freiheitsstrafe von drei Jahren abgestellt, ohne darzulegen, warum der Strafausspruch zum Nachteil des Beschwerdeführers erheblich von der bisherigen Straferwartung abweicht und sich die Fluchtgefahr dadurch ganz wesentlich erhöht hat. Vor allem aber hat das Oberlandesgericht nicht berücksichtigt, dass der Beschwerdeführer durch das strikte Befolgen der ihm erteilten Auflagen über einen Zeitraum von mehr als vier Jahren hinweg einen Vertrauenstatbestand geschaffen hat und hierin grundsätzlich schutzwürdig ist.