Leitsätze
zum Beschluß des Ersten Senats vom 10. September 1952
- 1 BvR 379/52 -
- Der Lauf der in § 93 Abs 2 BVerfGG gesetzten Frist zur Erhebung der Verfassungsbeschwerde beginnt gegenüber einem Gesetz, das rückwirkend in Kraft tritt, erst mit dem Zeitpunkt der Verkündung.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 379/52 -
IM NAMEN DES VOLKES
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
der Landwirtschaftsratswitwe Theodolinde Q., |
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der Landwirtschaftsratswitwe Anneliese H., |
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des früheren Oberlandwirtschaftsrats Karl-Friedrich Sch.., |
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des Assessors Fritz W. |
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des Verwaltungsoberinspektors Kurt W., |
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des Verwaltungsoberinspektors Kurt Z. |
- sämtliche vertreten durch Rechtsanwalt Dr. jur. habil. Hans Merkel, Augsburg -
gegen |
das Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131 des Grundgesetzes fallenden Personen vom 12. Mai 1951 (BGBl. I S. 307) |
hat das Bundesverfassungsgericht - Erster Senat - auf Antrag der Beschwerdeführer Ziff. 1 und Ziff. 5 in der Sitzung vom 10. September 1952
unter Mitwirkung
des Präsidenten Dr. Dr. Höpker-Aschoff
als Vorsitzenden
und der Richter Ellinghaus
Dr. Scheffler
Dr. Heiland.
Dr. Scholtissek
Dr. Drath
Wessel
Ritterspach.
Lehmann
Dr. Zweigert
beschlossen:
- Den Beschwerdeführern Ziff. 1 und Ziff. 5 wird das Armenrecht bewilligt. Zur vorläufig unentgeltlichen Wahrnehmung ihrer Rechte wird ihnen der Rechtsanwalt Dr. jur. habil. Merkel in Augsburg beigeordnet.
G r ü n d e :
1. Der am 9. Februar 1945 gefallene Ehemann der Beschwerdeführerin Ziff. 1 war Landwirtschaftsrat und Leiter der Abt. III B des Reichsnährstandes. Der Beschwerdeführerin Ziff. 1 wurden für sich und ihre drei minderjährigen Kinder bis einschließlich August 1945 Hinterbliebenenbezüge in Höhe von monatlich 618,90 RM brutto bezahlt. In der Folgezeit wurde die Zahlung eingestellt.
Der Beschwerdeführer Ziff. 5 war seit 1935 beim Reichsnährstand, zuletzt als Verwaltungsoberinspektor im Verwaltungsamt (Verwaltungshauptabteilung) tätig. Bezüge auf Grund des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Art. 131 GG fallenden Personen erhält er nicht.
2. Die Beschwerdeführer haben am 7. Mai 1952 gegen das am 13. Mai 1951 verkündete Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Art. 131 GG fallenden Personen Verfassungsbeschwerde eingelegt. Sie machen geltend, daß sie durch die aus Ziff. 5 der Anlage A zu § 2 Abs. 1 des Gesetzes folgende unterschiedliche Behandlung der Angehörigen der Hauptabteilung II gegenüber den Angehörigen der übrigen Abteilungen des Reichsnährstandes in ihrem Grundrecht gemäß Art. 3 Abs. 1 GG verletzt seien.
Die Beschwerdeführer haben beantragt, ihnen zur Durchführung des Verfahrens das Armenrecht zu bewilligen und ihnen Rechtsanwalt Dr. M. in A. beizuordnen.
3. Dem Antrag der Beschwerdeführer ist stattzugeben. Die Voraussetzungen des § 114 ZPO, der nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf das Verfahren der Verfassungsbeschwerde entsprechend anzuwenden ist - vgl. BVerfGE 1, 109 -, sind erfüllt; die Beschwerdeführer sind außerstande, ohne Beeinträchtigung des für sie notwendigen Unterhalts die Kosten des Verfahrens zu tragen, und die beabsichtigte Rechtsverfolgung ist weder aussichtslos noch mutwillig.
Auch die Bestimmung des § 93 Abs. 2 BVerfGG, nach der die Verfassungsbeschwerde gegen ein nicht vor dem 1. April 1951 in Kraft getretenes Gesetz binnen eines Jahres seit seinem Inkrafttreten zu erheben ist, steht der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde nicht entgegen. Das angefochtene, am 13. Mai 1951 verkündete Gesetz ist freilich bereits am 1. April 1951 rückwirkend in Kraft getreten. Bei wortgetreuer Anwendung des § 93 Abs. 2 BVerfGG wäre daher die erst am 7. Mai 1952 erhobene Verfassungsbeschwerde verspätet eingelegt.
Eine am Wortlaut haftende Auslegung des § 93 Abs. 2 BVerfGG wird jedoch dem Sinn dieser Vorschrift nicht gerecht. Die für die Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz vorgesehene Jahresfrist setzt im Interesse der Rechtssicherheit eine bestimmte Zeitspanne fest, innerhalb deren die Betroffenen sorgfältig prüfen und überlegen können, ob sie sich in ihren Grundrechten unmittelbar verletzt fühlen und das Bundesverfassungsgericht anrufen wollen. Der Lauf dieser Überlegungsfrist kann daher nicht vor dem Zeitpunkt beginnen, in welchem die Betroffenen vom Inhalt des Gesetzes Kenntnis erhalten können. Das aber ist frühestens am Tage der Verkündung der Fall. Erst von diesem Termin ab kann daher der Lauf der in § 93 Abs. 2 BVerfGG vorgesehenen Frist beginnen.
Diese Auslegung entspricht auch der Regelung des § 93 Abs. 1 BVerfGG, der die Beschwerdefrist bei gerichtlichen Entscheidungen mit der Zustellung, also mit der in besonderer Form erfolgten Mitteilung gegenüber dem Betroffenen beginnen läßt. Auch bei sonstigen Hoheitsakten setzt § 93 Abs. 2 BVerfGG die Beschwerdefrist erst mit dem Erlaß, also mit der Veröffentlichung oder Bekanntgabe in Lauf. Wollte man dagegen bei rückwirkenden Gesetzen die Anfechtungsfrist nicht vom Zeitpunkt der Verkündung, sondern bereits vom Zeitpunkt des Inkrafttretens ab berechnen, so würde man dadurch ohne zureichenden Grund die Dauer der vom Gesetzgeber vorgesehenen Überlegungsfrist verkürzen. Es wäre dann sogar möglich, daß Gesetze, deren Geltungsbeginn auf ein Jahr oder einen noch längeren Zeitraum vor der Verkündung zurückverlegt wird, überhaupt nicht mehr mit der Verfassungsbeschwerde angefochten werden könnten. Solche Möglichkeiten würden einer sinnvollen Auslegung und Anwendung des § 93 Abs. 2 BVerfGG nicht entsprechen. Die in § 93 Abs. 2 BVerfGG gesetzte Frist zur Erhebung der Verfassungsbeschwerde kann daher gegenüber einem Gesetz, das rückwirkend in Kraft tritt, erst mit dem Zeitpunkt der Verkündung beginnen. Die am 7. Mai 1952 erhobene Verfassungsbeschwerde ist daher fristgemäß eingelegt.
4. Wegen der Zulässigkeit der Beiordnung eines nicht am Sitz des Bundesverfassungsgerichts zugelassenen Rechtsanwalts wird auf BVerfGE 1, 109 verwiesen.
Dr. Dr. | Höpker-Aschoff | Ellinghaus | |||||||||
Dr. Scheffler | Dr. Heiland | Dr. Scholtissek | |||||||||
Dr. Drath | Wessel | Ritterspach | |||||||||
Lehmann | Dr. Zweigert |