BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvE 5/94 -
IM NAMEN DES VOLKES
In dem Verfahren
über
den Antrag festzustellen, daß
der Deutsche Bundestag durch das Sechzehnte Gesetz zur Änderung des Abgeordnetengesetzes (Fraktionsgesetz) vom 11. März 1994 (Bundesgesetzblatt I Seite 526), einer Novelle zum Abgeordnetengesetz, Artikel 40 Absatz 1 Satz 2 Grundgesetz verletzt hat, wonach Geschäftsordnungsfragen grundsätzlich durch Geschäftsordnung, nicht aber durch Gesetz zu regeln sind, und damit in das Recht des Abgeordneten eingegriffen hat, daß das Parlament, dem er angehört, nur in der von der Verfassung vorgesehenen und auch seinem Schutz dienenden Form entscheidet |
Antragsteller: |
Herr Ortwin L o w a c k, Mitglied des 12. Deutschen Bundestages |
- Bevollmächtigter:
Professor Dr. Dr. h.c. Hans Meyer, Georg-Speyer-Straße 28, Frankfurt -
Antragsgegner: |
Der Deutsche Bundestag, vertreten durch den Präsidenten, Bundeshaus, Bonn |
hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat - unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Präsidentin Limbach,
Böckenförde,
Klein,
Graßhof,
Kruis,
Kirchhof,
Winter,
Sommer
am 11. Januar 1995 gemäß § 24 BVerfGG einstimmig beschlossen:
- Der Antrag wird verworfen.
G r ü n d e :
A.
Gegenstand des Verfahrens ist die Frage, ob der Deutsche Bundestag durch das Sechzehnte Gesetz zur Änderung des Abgeordnetengesetzes (Fraktionsgesetz) vom 11. März 1994 (BGBl. I S. 526) gegen einen möglicherweise in Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG enthaltenen Geschäftsordnungsvorbehalt verstoßen und eigene Rechte des Antragstellers verletzt hat.
I.
Die maßgebenden Vorschriften des durch das Fraktionsgesetz neu gefaßten Abgeordnetengesetzes lauten:
§ 45. Fraktionsbildung
(1) Mitglieder des Bundestages können sich zu Fraktionen zusammenschließen.
(2) Das Nähere regelt die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages.
§ 46. Rechtsstellung
(1) Die Fraktionen sind rechtsfähige Vereinigungen von Abgeordneten im Deutschen Bundestag.
(2) Die Fraktionen können klagen und verklagt werden.
(3) Die Fraktionen sind nicht Teil der öffentlichen Verwaltung; sie üben keine öffentliche Gewalt aus.
§ 47. Aufgaben
(1) Die Fraktionen wirken an der Erfüllung der Aufgaben des Deutschen Bundestages mit.
(2) Die Fraktionen können mit Fraktionen anderer Parlamente und parlamentarischen Einrichtungen national und international zusammenarbeiten.
(3) Die Fraktionen und ihre Mitglieder können die Öffentlichkeit über ihre Tätigkeit unterrichten.
§ 48. Organisation
(1) Die Fraktionen sind verpflichtet, ihre Organisation und Arbeitsweise auf den Grundsätzen der parlamentarischen Demokratie aufzubauen und an diesen auszurichten.
(2) Die Fraktionen geben sich eine eigene Geschäftsordnung.
§ 49. Geheimhaltungspflicht der Fraktionsangestellten
...
§ 50. Geld- und Sachleistungen
(1) Die Fraktionen haben zur Erfüllung ihrer Aufgaben Anspruch auf Geld- und Sachleistungen aus dem Bundeshaushalt.
(2) Die Geldleistungen setzen sich aus einem Grundbetrag für jede Fraktion, aus einem Betrag für jedes Mitglied und einem weiteren Zuschlag für jede Fraktion, die nicht die Bundesregierung trägt (Oppositionszuschlag), zusammen. Die Höhe dieser Beträge und des Oppositionszuschlages legt der Deutsche Bundestag nach entsprechender Anwendung des § 30 Satz 1 fest.
(3) ...
(4) Leistungen nach Absatz 1 dürfen die Fraktionen nur für Aufgaben verwenden, die ihnen nach dem Grundgesetz, diesem Gesetz und der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages obliegen. Eine Verwendung für Parteiaufgaben ist unzulässig.
(5) Geldleistungen nach Absatz 1 können auf neue Rechnung vorgetragen werden.
Es folgen Regelungen zur Haushalts-, Wirtschafts- und Buchführung (§ 51), zur Rechnungslegung (§ 52), zur Rechnungsprüfung durch den Bundesrechnungshof (§ 53) sowie zur Beendigung der Rechtsstellung und Liquidation (§ 54).
Das Gesetz ist am 19. März 1994 im Bundesgesetzblatt verkündet worden. Es soll am 1. Januar 1995 in Kraft treten (Art. 2).
II.
Der Antragsteller war fraktionsloses Mitglied des 12. Deutschen Bundestages. Dem am 10. November 1994 zusammengetretenen 13. Deutschen Bundestag gehört er nicht mehr an.
Mit seinem am 19. August 1994 eingegangenen Antrag rügt er, daß der Deutsche Bundestag durch das Fraktionsgesetz gegen Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG verstoßen habe, wonach Geschäftsordnungsfragen grundsätzlich durch Geschäftsordnung, nicht aber durch Gesetz zu regeln seien. Der Bundestag habe dadurch das einem jeden Abgeordneten zustehende Recht verletzt, daß das Organ, dem er angehöre, seine Entscheidungen nur in der Form und in dem dazu gehörenden Verfahren treffe, die das Grundgesetz vorschreibe.
Gemäß Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG gebe sich der Bundestag eine Geschäftsordnung. Die klassischen Inhalte einer Geschäftsordnung seien "Geschäftsgang und Disziplin" sowie das Selbstorganisationsrecht des Parlaments. Diese Regelungsmaterien könnten nicht beliebig durch Gesetzesrecht ersetzt werden, denn Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG enthalte einen Geschäftsordnungsvorbehalt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sei die Gesetzesform jedenfalls dann unzulässig, wenn die Regelung den "Kern der Geschäftsordnungsautonomie berühre" (vgl. BVerfGE 70, 324 <361>).
Die Geschäftsordnungsautonomie sei auf das Innenrecht, auf die Angelegenheiten des Parlaments selbst, beschränkt. Sie habe jedoch auch die Funktion, zu verhindern, daß das Parlament bei der Regelung seiner eigenen Angelegenheiten aus dem Innenrechtsbereich des Verfassungsorgans Parlament heraustrete. Es sei dem Parlament verwehrt, durch Außenrecht ein eigenständiges und vom Parlamentsrecht der Verfassung nicht mehr umfaßtes Organisationsgefüge entstehen zu lassen.
Das Fraktionsgesetz berühre den Kern der Geschäftsordnungsautonomie. Die Gestaltung seiner Binnengliederung gehöre zu den fundamentalen Elementen des Organisationsrechts eines Parlaments. Mit den Regeln über die Fraktionsbildung, die Rechtsstellung, die Aufgaben der Fraktionen sowie ihre Organisation enthalte das Fraktionsgesetz wichtige, zum Teil fundamentale Festlegungen für die wichtigste Suborganisation des Bundestages und regele insofern interne Angelegenheiten des Parlaments. Die wichtigste Regelung stecke in § 46 Abs. 1 des Gesetzes, wonach die Fraktionen unbeschränkt rechtsfähig seien. Damit emanzipierten sich die Fraktionen endgültig vom Parlament, sie definierten sich als eigenständige, vom Parlament zu unterscheidende Größen. Die Gesetzesform für eine solche Regelung sei auch nicht deshalb zulässig, weil die Fraktionen durch Geschäftsordnungsrecht nicht in der Lage gewesen wären, sich die eigene unbeschränkte Rechtsfähigkeit zu attestieren. Die Verpflichtung auf die Geschäftsordnung als die Handlungsform, in der das Parlament seine eigenen Angelegenheiten zu regeln habe, sei gerade auch zum Schutz dagegen gedacht, daß das Parlament oder seine Gliederungen sich völlig aus dem Kontext der Verfassungsorganisation verabschieden könnten.
Die eigene Rechtsfähigkeit der Fraktionen und die weiteren daran anknüpfenden Regelungen seien mit dem sich aus dem Grundgesetz ergebenden Rechtsstatus der Fraktionen nicht zu vereinbaren. Als Teil des Organs Parlament nähmen die Fraktionen notwendig an dessen Rechtsnatur teil. Sie besäßen keinen stärkeren, höchstens einen schwächeren Rechtsstatus als das Organ, dessen Teil sie seien. Das Grundgesetz kenne im Bereich der Legislative nur ein einziges Verfassungsorgan, das Parlament. Die Verfassung gestatte nicht, wie durch die Anerkennung der Fraktion als juristische Person geschehen, weitere Verfassungsorgane in diesem Bereich zu schaffen.
Auch mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtsstellung der Fraktionen sei das Gesetz unvereinbar. Das Gericht habe eine staatliche Finanzierung der Fraktionen ausschließlich für eine "sachgemäße, effektive Fraktionsarbeit im Rahmen der Aufgaben des Parlaments" zugelassen (vgl. BVerfGE 80, 188 <213>). Eigeninteressen der Fraktionen, wie die durch § 47 Abs. 3 des Gesetzes zugelassene Öffentlichkeitsarbeit, dürften nicht finanziert werden. Schließlich sei das Fraktionsgesetz unvereinbar mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur parlamentarischen Gruppe. Auf der Basis der Geschäftsordnung habe die Gleichstellung zwischen Fraktionen und Gruppen aufgrund eines bloßen Parlamentsbeschlusses realisiert werden können. Sobald das Parlament die Fraktionen durch Gesetz privilegiere, sei eine Gleichstellung in dieser Form nicht mehr möglich.
B.
Der Antrag ist unzulässig. Dem Antragsteller, der seit dem Ablauf der 12. Legislaturperiode nicht mehr Mitglied des Deutschen Bundestages ist, hat bereits bei Einreichung des Antrags die erforderliche Antragsbefugnis gefehlt (§ 64 Abs. 1 BVerfGG).
Ein Abgeordneter ist antragsbefugt, wenn er schlüssig behauptet, daß er und der Antragsgegner an einem verfassungsrechtlichen Rechtsverhältnis unmittelbar beteiligt sind und daß der Antrags-gegner hieraus erwachsende eigene Rechte des Antragstellers durch die beanstandete Maßnahme oder durch ein Unterlassen verletzt oder unmittelbar gefährdet hat (vgl. BVerfGE 70, 324 <350>; 80, 188 <209>).
Diesen Voraussetzungen hat der Antrag von Anfang an nicht genügt. Soweit der Antragsteller geltend gemacht hat, die Regelungen des Fraktionsgesetzes hätten weder durch Geschäftsordnung noch durch Gesetz getroffen werden dürfen, weil sie in materieller Hinsicht mit der Verfassung unvereinbar seien, konnte er durch den Beschluß des Gesetzes in seiner Rechtsstellung als Mitglied des Bundestages schon deshalb nicht verletzt oder unmittelbar gefährdet sein, weil das Gesetz erst am 1. Januar 1995 und damit nach Beendigung seines Mandats in Kraft treten soll.
Soweit er geltend gemacht hat, der Bundestag habe durch das Fraktionsgesetz gegen Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG verstoßen, wonach Geschäftsordnungsfragen grundsätzlich durch Geschäftsordnung, nicht aber durch Gesetz zu regeln seien, scheidet eine Verletzung eigener Rechte ebenfalls aus. Dabei kann hier dahinstehen, ob eine Regelung von Geschäftsordnungsmaterien durch Gesetz, die zur Folge hat, daß die so geregelten Materien künftighin nicht mehr allein von den Mitgliedern des Bundestages im Wege eines Geschäftsordnungsbeschlusses, sondern nur im Wege der Bundesgesetzgebung und damit unter Beteiligung des Bundesrates geregelt werden können (Art. 76 bis 78 GG), nur Rechte des Bundestages als Ganzen betrifft und einschränkt oder auch die Rechte der einzelnen Abgeordneten, die in ihrer Gesamtheit den Bundestag bilden und seine Aufgaben und Befugnisse wahrnehmen (vgl. BVerfGE 80, 188 <218 f.>). Auch im letzteren Fall konnte der Antragsteller durch das Fraktionsgesetz, solange sein Abgeordnetenmandat dauerte, in seinen Rechten nicht beeinträchtigt oder gefährdet sein. Denn auch nach dem Zustandekommen dieses Gesetzes und seiner Verkündung am 11. März 1994 war der Bundestag bis zu dessen Inkrafttreten am 1. Januar 1995 nach wie vor befugt, Rechte und Rechtsstellung der Fraktionen, wenn er dafür ein Bedürfnis sah, allein durch Geschäftsordnungsbeschluß zu regeln, auch anders zu regeln, als im Gesetz festgelegt. Eine solche Regelung wäre jedenfalls bis zum 1. Januar 1995 - und damit über die Beendigung des Mandats des Antragstellers hinaus - möglich und wirksam gewesen.
Limbach Böckenförde Klein
Graßhof Kruis Kirchhof
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