Bundesverfassungsgericht
- 1 BvR 55/94 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn G...
gegen a) | den Beschluß des
Landgerichts München II vom 7. Dezember 1993 - 3 JNs 11 Js 11729/91 -, |
b) | das Urteil des Amtsgerichts
Fürstenfeldbruck vom 12. Mai 1993 - 4 Ds 11 Js 11729/91 - |
hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den
Vizepräsidenten Seidl,
den Richter Grimm
und die Richterin Haas
am 4. Dezember 1997 einstimmig beschlossen:
Das Urteil des Amtsgerichts Fürstenfeldbruck
vom 12. Mai 1993 - 4 Ds 11 Js 11729/91 - und der Beschluß des
Landgerichts München II vom 7. Dezember 1993 - 3 JNs 11 Js
11729/91 - verletzen Artikel 103 Absatz 2 des Grundgesetzes.
Sie werden aufgehoben.
Die Sache wird an das Amtsgericht zurückverwiesen.
Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer seine
notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe:
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen eine Bestrafung wegen Nötigung, begangen durch die Teilnahme an einer Sitzdemonstration vor einer militärischen Einrichtung.
I.
1. Der Beschwerdeführer nahm zu Beginn des Golf-Kriegs an einer Sitzdemonstration vor dem Haupttor eines Fliegerhorstes teil, durch die der ein- und ausfahrende Verkehr für etwa 20 Minuten blockiert wurde. Die Veranstaltung zielte darauf ab, die anhaltenden Verkehrsteilnehmer auf die Auswirkungen und Gefahren des Golf-Kriegs und die Problematik des Kriegs im allgemeinen aufmerksam zu machen.
Das Amtsgericht verurteilte den Beschwerdeführer wegen Nötigung zu einer Geldstrafe. Die Sitzblockade sei unabhängig von den verfolgten Fernzielen eine strafbare Nötigung. Die Teilnehmer der Veranstaltung hätten gegenüber den Fahrzeugführern Gewalt ausgeübt. Diese sei im Hinblick auf den angestrebten Zweck, andere an der Weiterfahrt zu hindern, verwerflich.
Das Landgericht verwarf die Berufung des Beschwerdeführers als unzulässig, weil es sie als offensichtlich unbegründet beurteilte und deshalb nicht annahm (§§ 313, 322 a StPO).
2. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer unter anderem die Verletzung seines Rechts aus Art. 103 Abs. 2 GG. Zur Begründung dieser Rüge macht er im wesentlichen geltend: § 240 StGB verstoße gegen das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG, soweit er auf Verhaltensweisen mit demonstrativem und gewaltfreiem Charakter nach den Regeln des zivilen Ungehorsams angewendet werde. Angesichts der uneinheitlichen Rechtsprechung sei für den Bürger nicht voraussehbar, ob seine Teilnahme an einer derartigen Protestaktion als Straftat bewertet werde oder nicht.
3. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz hat von einer Stellungnahme abgesehen.
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil es zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Der Verfassungsbeschwerde ist durch die Kammer stattzugeben (§ 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf einem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG.
Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluß vom 10. Januar 1995 (BVerfGE 92, 1) eine Auslegung des § 240 Abs. 1 StGB, wonach bereits die körperliche Anwesenheit von Personen an einer Stelle, die ein anderer einnehmen oder passieren möchte, zur Erfüllung des Tatbestandsmerkmals der Gewalt genügt, falls der andere durch die Anwesenheit des Täters psychisch an der Durchsetzung seines Willens gehindert wird, für unvereinbar mit Art. 103 Abs. 2 GG erklärt. Dieser weite Gewaltbegriff liegt sowohl dem Urteil des Amtsgerichts als auch dem dieses Urteil bestätigenden Beschluß des Landgerichts zugrunde. Die Veranstaltung, an der der Beschwerdeführer teilnahm, war nach den Feststellungen des Amtsgerichts eine reine Sitzblockade ohne zusätzliche körperliche Kraftentfaltung; sie konnte mithin nur nach dem vorgenannten, vom Bundesverfassungsgericht verworfenen Gewaltbegriff unter den Tatbestand des § 240 Abs. 1 StGB fallen.
Ob die angegriffenen Entscheidungen weitere verfassungsmäßige Rechte des Beschwerdeführers verletzen, kann offenbleiben.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Grimm | Haas | Seidl |