BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 1788/99 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
der Frau W...,
Berliner Promenade 15, Saarbrücken -
gegen | den Beschluß des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 26. Juli 1999 - NC 2 S 61/99 - |
und | vorsorglich Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand |
hier: | Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung |
hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Richter Kühling,
die Richterin Jaeger
und den Richter Steiner
gemäß § 32 Abs. 1 in Verbindung mit § 93 d Abs. 2 BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 18. Oktober 1999 einstimmig beschlossen:
Die Vollziehung des Beschlusses des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 26. Juli 1999 - NC 2 S 61/99 - wird bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, einstweilen ausgesetzt.
Gründe:
I.
Die Beschwerdeführerin begehrt die Zuweisung eines Studienplatzes im verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren und beantragt, die Vollziehung des Beschlusses des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts bis zur Entscheidung über ihre Verfassungsbeschwerde auszusetzen.
1. Die Beschwerdeführerin bewarb sich zum Wintersemester 1998/99 bei der Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen (ZVS) um einen Platz im Studiengang der Tiermedizin. Ihr Zulassungsantrag wurde mit Bescheid der ZVS vom 3. September 1998 abgelehnt. Die Beschwerdeführerin stellte daraufhin - unter anderem - beim Verwaltungsgericht Leipzig einen Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung gegen den Freistaat Sachsen auf Zulassung zum Studium der Tiermedizin an der Universität Leipzig.
Das Verwaltungsgericht Leipzig verpflichtete mit Beschluß vom 12. März 1999 den Freistaat Sachsen - vertreten durch die Universität Leipzig -, innerhalb einer Woche nach Zustellung des Beschlusses unter den Antragstellern des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens eine Rangfolge von 1 bis 32 auszulosen und diejenigen Antragsteller mit den Rangnummern 1 bis 22 vorläufig zum Studium der Tiermedizin zuzulassen. Auf die Beschwerdeführerin fiel die Losnummer 15.
Der Beschwerdeführerin wurde eine vorläufige Zulassung im Studiengang Tiermedizin an der Universität Leipzig erteilt; sie immatrikulierte sich fristgemäß.
Auf den Antrag des Freistaates Sachsen - vertreten durch die Universität Leipzig - ließ das Sächsische Oberverwaltungsgericht mit Beschluß vom 11. Juni 1999 die Beschwerde zu. Zu dem am 6. Juli 1999 ausgefertigten Beschluß, der keine Begründung enthält, nahm die Beschwerdeführerin mit Schriftsatz vom 23. Juli 1999, beim Sächsischen Oberverwaltungsgericht am 26. Juli 1999 eingegangen, Stellung. Sie rügte, daß sich dem Beschluß über die Zulassung der Beschwerde nicht entnehmen lasse, aus welchem Grund diese zugelassen worden sei; deshalb gehe die Beschwerdeführerin davon aus, daß die Universität Leipzig ihr Rechtsmittel noch weiter begründen werde und bitte um eine ausreichende Frist zur Stellungnahme. Der Sache nach sei die Kapazitätsberechnung der Universität Leipzig falsch, weil auch beurlaubte Studenten und Gasthörer mitgezählt worden seien. Dies entspreche nicht der herrschenden Meinung. Für die Kapazitätsberechnung und damit auch für die Berechnung des Schwundfaktors dürfe ausschließlich auf die Anzahl der ordentlich immatrikulierten Studenten abgestellt werden.
2. Das Sächsische Oberverwaltungsgericht hat mit dem - am 12. August 1999 der Beschwerdeführerin zugegangenen - Beschluß vom 26. Juli 1999 über die Beschwerde des Freistaates Sachsen entschieden und dieser Beschwerde teilweise stattgegeben. Der Antrag auf Erlaß der einstweiligen Anordnung der Beschwerdeführerin wurde abgelehnt. Die Argumente aus dem Schriftsatz vom 23. Juli 1999 wurden nicht behandelt.
Daraufhin widerrief die Universität Leipzig die vorläufige Zulassung und die vorläufige Einschreibung der Beschwerdeführerin und exmatrikulierte sie mit sofortiger Wirkung. Gleichzeitig wurde die sofortige Vollziehung der Entscheidung angeordnet.
II.
1. Die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin ist per Telefax am 13. September 1999 eingegangen. Aus dem Briefkopf dieses Telefaxes geht hervor, daß Rechtsanwalt Dr. Zimmerling der Verfasser des Schriftsatzes ist. Zwar fehlt die letzte Seite des Schriftsatzes als Seite 22 von insgesamt 73 übermittelten Seiten, so daß damit zugleich die Unterschrift des Prozeßbevollmächtigten fehlt. Der vollständige Originalschriftsatz ging im September auf dem Postweg ein. Wegen der unerklärlichen Faxstörung, die sich aus dem Sendeprotokoll nicht ergebe, wurde Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt.
Die Beschwerdeführerin rügt die Verletzung ihrer Rechte aus Art. 103 Abs. 1 sowie aus Art. 12 Abs. 1 GG. Das Beschwerdegericht hätte die Prozeßbeteiligten darauf hinweisen müssen, daß es nach Zulassung der Beschwerde unmittelbar auch in der Sache zu entscheiden gedenke. Den Prozeßbeteiligten müsse Gelegenheit gegeben werden, umfassend zur Sache vorzutragen; das gelte um so mehr, wenn die Zulassungsentscheidung nicht begründet werde. Darüber hinaus habe das Sächsische Oberverwaltungsgericht den Sachvortrag im Schriftsatz vom 23. Juli 1999, der rechtzeitig eingegangen sei, nicht zur Kenntnis genommen; er habe zum Zeitpunkt der Entscheidungsfindung bereits vorgelegen. Daß bei der Berechnung des Schwundfaktors beurlaubte Studenten und Nebenhörer nicht zu berücksichtigen seien, liege auf der Hand. Hätte das Sächsische Oberverwaltungsgericht den Sachvortrag berücksichtigt, wäre seine Kapazitätsberechnung der Beschwerdeführerin günstig gewesen.
2. Im Hinblick auf die erhobene Verfassungsbeschwerde beantragt die Beschwerdeführerin den Erlaß einer einstweiligen Anordnung.
III.
Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung ist begründet.
1. Nach §§ 32, 93 d Abs. 2 BVerfGG kann die Kammer im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erwiese sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet (BVerfGE 88, 25 <35>; 89, 109 <110>). Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens muß das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre.
2. Die Verfassungsbeschwerde ist weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet.
a) Das innerhalb der Frist des § 93 Abs. 1 BVerfGG eingegangene Telefax der Beschwerdeführerin genügt der Bestimmung des § 23 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG. Die hier geforderte Schriftlichkeit verlangt nur, daß aus dem Schriftstück der Inhalt der Erklärung, die abgegeben werden soll, und die Person, von der sie ausgeht, hinreichend zuverlässig entnommen werden können. Nicht unbedingt notwendig ist die handschriftliche Unterzeichnung; der Urheber der Erklärung kann auch auf andere Weise angegeben werden (vgl. BVerfGE 15, 288 <291>). Im vorliegenden Fall läßt sich dem Telefax entnehmen, daß es von dem bevollmächtigten Rechtsanwalt Dr. Zimmerling verfaßt worden ist. Aus dem Briefkopf des Telefaxes geht hervor, daß Rechtsanwalt Dr. Zimmerling der Autor des Schriftsatzes ist. Insoweit ist es unschädlich, daß die Seite 22 des Telefaxes mit der Unterschrift des Rechtsanwaltes nicht übermittelt worden ist. Auch ohne Unterschrift ließ sich zweifelsfrei entnehmen, von wem die Verfassungsbeschwerde herrührte. Hielte man die unterschriebene Seite für unverzichtbar, wäre jedenfalls dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand stattzugeben, weil der Übermittlungsfehler laut Sendeprotokoll nicht erkennbar war.
b) Die Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs ist schlüssig. Es bedarf keiner Entscheidung dazu, ob das Sächsische Oberverwaltungsgericht nach der nicht weiter begründeten Zulassung der Beschwerde der in erster Instanz erfolgreichen Beschwerdeführerin von Verfassungs wegen Gelegenheit zu ergänzendem Vortrag hätte geben müssen. Jedenfalls hätte es den rechtzeitig eingegangenen Schriftsatz vom 23. Juli 1999 bei der Sachentscheidung berücksichtigen müssen.
Zu Art. 103 Abs. 1 GG hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden, daß das einfache Recht und seine Anwendung im Einzelfall von Verfassungs wegen ein Ausmaß an Gehör eröffnen müssen, das sachangemessen ist, um dem Erfordernis eines wirkungsvollen Rechtsschutzes gerecht zu werden (vgl. BVerfGE 81, 123 <129>). Ferner ist geklärt, daß Art. 103 Abs. 1 GG grundsätzlich auch dort Anwendung findet, wo es sich um eine vorläufige Maßnahme zur Regelung eines einstweiligen Zustandes handelt (vgl. BVerfGE 9, 89 <96 f.>). Da es sich hierbei immer um einen Eingriff in die Rechte des Betroffenen handelt, kann eine Ausnahme von dem Grundsatz vorheriger Anhörung nur zulässig sein, wenn dies unabweisbar ist, um nicht den Zweck der Maßnahme zu gefährden (vgl. BVerfGE 9, 89 <98>). Das ist hier nicht der Fall.
Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß die Berücksichtigung des Schriftsatzes der Beschwerdeführerin vom 23. Juli 1999 das Gericht zu einer anderen Beurteilung des Sachverhalts oder in einem wesentlichen Punkt zu einer anderen Würdigung oder zu einer anderen, ihr günstigeren Entscheidung geführt hätte, weil der Sachvortrag für das Rechenwerk erheblich ist.
3. Die damit gebotene Folgenabwägung führt zum Erlaß der einstweiligen Anordnung. Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, so entstünden der Beschwerdeführerin schwere und kaum wiedergutzumachende Nachteile. Sie könnte mit ihrem Studium der Tiermedizin nicht beginnen. Erginge die einstweilige Anordnung, hätte die Verfassungsbeschwerde später aber keinen Erfolg, könnte die Beschwerdeführerin ihr Studium vorläufig aufnehmen. Unüberbrückbare Engpässe auf seiten der Universität sind derzeit nicht ersichtlich. Die Folgen einer solchen zeitlichen Verzögerung der Exmatrikulation fallen auf seiten der Universität weniger ins Gewicht als der Verlust des Studienplatzes auf seiten der Beschwerdeführerin.
Wegen der besonderen Dringlichkeit ergeht der Beschluß ohne Anhörung des an dem vorläufigen Rechtsschutzverfahren beteiligten Freistaates Sachsen.
Kühling | Jaeger | Steiner |