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BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 1021/24 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
der Frau (…), |
- Bevollmächtigter:
- (…) -
gegen |
den Beschluss des Sozialgerichts Konstanz vom 12. März 2024 - S 5 AS 1798/23 - |
hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterin Ott
und die Richter Radtke,
Wolff
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung
vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)
am 16. Mai 2024 einstimmig beschlossen:
- Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
- Der Antrag der Beschwerdeführerin auf Erstattung der notwendigen Auslagen im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird abgelehnt.
G r ü n d e :
I.
1. Die mit einem Antrag auf Erstattung der Auslagen verbundene Verfassungsbeschwerde betrifft eine Kostengrundentscheidung in einem sozialgerichtlichen Ausgangsverfahren.
a) Die Beschwerdeführerin beantragte am 18. April 2023 beim zuständigen Jobcenter Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Mit Bescheid vom 11. Mai 2023 gewährte ihr das Jobcenter Leistungen für April 2023. Mit weiterem Bescheid vom 11. Mai 2023 gewährte es ihr Leistungen für Juni 2023 bis Mai 2024. Beide Bescheide sind der Beschwerdeführerin zugegangen. Dass der Beschwerdeführerin auch ein Bescheid für Mai 2023 zugegangen ist, lässt sich nicht feststellen.
b) Mit Schreiben vom 27. Mai 2023 erhob die Beschwerdeführerin Widerspruch unter anderem gegen den „Ablehnungsbescheid vom 11.05.2023“. Mit Widerspruchsbescheid vom 9. Oktober 2023 wies das Jobcenter den Widerspruch als unbegründet zurück. In der Begründung wies es darauf hin, dass es mit Bescheid vom 11. Mai 2023 Leistungen nach dem SGB II für Mai 2023 abgelehnt habe.
2. Am 3. November 2023 hat die Beschwerdeführerin Untätigkeitsklage beim Sozialgericht mit dem Antrag erhoben, das beklagte Jobcenter zu verurteilen, den Antrag vom 18. April 2023 für Mai 2023 zu verbescheiden. Im Verfahren der Untätigkeitsklage trug das Jobcenter vor, bereits mit Bescheid vom 11. Mai 2023 den Antrag für den Monat Mai wegen übersteigenden Einkommens abgelehnt zu haben. Mit Bescheid vom 15. Dezember 2023 bewilligte das Jobcenter der Beschwerdeführerin Leistungen nach dem SGB II für Mai 2023. Daraufhin erklärte die Beschwerdeführerin die Untätigkeitsklage für erledigt und beantragte, die außergerichtlichen Kosten der Beschwerdeführerin dem beklagten Jobcenter aufzuerlegen.
3. Mit Beschluss vom 12. März 2024 hat das Sozialgericht den Antrag auf Kostenerstattung abgelehnt. Die Entscheidung ergehe nach billigem Ermessen unter Berücksichtigung des Sach- und Streitstandes. Nachdem bei Erhebung der Untätigkeitsklage am 3. November 2023 unstreitig über den Antrag vom 18. April 2023 mit Bescheiden vom 11. Mai 2023 sowohl für April 2023 als auch für die Monate ab Juni 2023 entschieden worden sei, komme eine Kostenerstattung nicht in Betracht. Bei diesem Sachverhalt sei es der Beschwerdeführerin zuzumuten gewesen, sich vor der Erhebung der Untätigkeitsklage hinsichtlich des Monats Mai 2023 zunächst nochmals kurz an die Beklagte zu wenden.
4. Mit ihrer gegen den Beschluss des Sozialgerichts gerichteten Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Willkürverbot.
II.
1. Der Verfassungsbeschwerde kommt keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung im Sinne des § 93a Abs. 2 lit a) BVerfGG zu und ihre Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt (§ 93a Abs. 2 lit. b) BVerfGG), weil die Verfassungsbeschwerde keine Aussicht auf Erfolg hat (vgl. BVerfGE 90, 22 <25 f.>). Sie ist jedenfalls unbegründet. Die Kostenentscheidung des Sozialgerichts verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Willkürverbot.
a) aa) Ein Verstoß gegen das Willkürverbot liegt bei gerichtlichen Entscheidungen nicht schon dann vor, wenn die Rechtsanwendung oder das eingeschlagene Verfahren Fehler enthalten. Willkürlich ist ein Richterspruch nur dann, wenn er unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass er auf sachfremden Erwägungen beruht. Das ist anhand objektiver Kriterien festzustellen. Schuldhaftes Handeln des Richters ist nicht erforderlich. Eine fehlerhafte Auslegung eines Gesetzes oder eine fehlerhafte Rechtsanwendung allein machen eine Gerichtsentscheidung nicht willkürlich. Willkür liegt vielmehr erst vor, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder der Inhalt einer Norm in krasser Weise missdeutet wird, wenn also die Auslegung und die Anwendung einfachen Rechts unter keinem denkbaren Gesichtspunkt mehr vertretbar ist. Von einer willkürlichen Missdeutung kann jedoch nicht gesprochen werden, wenn das Gericht sich mit der Rechtslage eingehend auseinandersetzt und seine Auffassung nicht jeden sachlichen Grundes entbehrt (vgl. BVerfGE 87, 273 <278 f.>; 89, 1 <13 f.>; 96, 189 <203>; 112, 185 <216>; stRspr). Dabei kommt es darauf an, ob die Entscheidung im Ergebnis nicht vertretbar ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. März 2022 - 1 BvR 484/22 -, Rn. 10; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 18. Juli 2023 - 1 BvR 600/19 -, Rn. 31). Es ist also nicht zu prüfen, ob die Entscheidung vom Fachgericht zutreffend begründet worden ist, sondern ob sie begründbar ist.
bb) Ausgehend davon gelten für die Beurteilung möglicher Willkür bei einer Kostengrundentscheidung auf der Grundlage von § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG folgende Maßgaben: Gemäß § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG hat das Gericht im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Nach § 193 Abs. 1 Satz 3 SGG entscheidet das Gericht auf Antrag durch Beschluss, wenn das Verfahren anders beendet wird. § 193 Abs. 1 Sätze 1 und 3 SGG geben nach der fachgerichtlichen Rechtsprechung – anders als entsprechende Regelungen anderer Prozessordnungen (vgl. etwa § 154 VwGO, § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO) – die materiellen Maßstäbe für die Kostengrundentscheidung nicht vor (vgl. BSG, Urteil vom 22. September 2022 - B 4 AS 60/21 R -, Rn. 30). Vielmehr sind alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen; neben dem Erfolgsgesichtspunkt kann auch dem Veranlassungsprinzip entscheidende Bedeutung zukommen (vgl. BSG, Urteil vom 22. September 2022 - B 4 AS 60/21 R -, Rn. 30 m.w.N.; vgl. auch BVerfGK 16, 245 <250> m.w.N.). Auch wenn eine Klage zulässig und begründet ist, ist nicht ausgeschlossen, dass das Gericht in pflichtgemäßer Ausübung seines Ermessens aus Gründen der Billigkeit nach § 193 Abs. 1 SGG eine Kostenerstattung ablehnt (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 8. Februar 2023 - 1 BvR 311/22 -, Rn. 14; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 19. September 2023 - 1 BvR 1555/23 -, Rn. 7; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 6. Februar 2024 - 1 BvR 301/22 -, Rn. 14). Angesichts des den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit insofern eingeräumten weiten Ermessens (vgl. dazu BVerfGK 16, 245 <249 ff. >) kann von einer willkürlichen Entscheidung in diesem Kontext nur ausnahmsweise ausgegangen werden. Das Bundesverfassungsgericht hat insbesondere keine eigene Abwägung vorzunehmen, sondern sich auf die Prüfung zu beschränken, ob die getroffene Entscheidung jeglichen sachlichen Grundes entbehrt (vgl. BVerfGK 16, 245 <252>).
b) Die angegriffene Entscheidung ist danach nicht willkürlich. Das Sozialgericht stützt seine Entscheidung darauf, dass es aufgrund der Umstände des Falles der Beschwerdeführerin zumutbar gewesen sei, sich vor Erhebung einer Untätigkeitsklage zunächst nochmals kurz an die Behörde zu wenden. Dies ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wobei dahinstehen kann, ob die Untätigkeitsklage zulässig und begründet war.
Das Sozialgericht hat auf die Umstände des Einzelfalls abgestellt und daraus in vertretbarer Weise gefolgert, dass es der Beschwerdeführerin zumutbar war, vor sich vor Erhebung der Untätigkeitsklage noch einmal an das beklagte Jobcenter zu wenden.
Die Beschwerdeführerin ging selbst davon aus, dass für den Monat Mai 2023 eine Ablehnung wegen übersteigenden Einkommens erfolgt war. Sie hat gegen diese Ablehnung Widerspruch erhoben, auf Erläuterungsschreiben des Jobcenters im Rahmen des Widerspruchsverfahrens entsprechend reagiert und hinsichtlich der streitigen Anrechnung einer Arbeitslosengeldnachzahlung auf den Bedarf im Mai 2023 mit dem Jobcenter korrespondiert. Zudem hat das Jobcenter im Widerspruchsbescheid für den streitigen Monat Mai 2023 ausgeführt, mit Bescheid vom 11. Mai 2023 Leistungen abgelehnt zu haben. Weiter hat die Beschwerdeführerin Bescheide vom 11. Mai 2023 sowohl für April 2023 als auch für die Monate ab Juni 2023 erhalten. Bei dieser Sachlage konnte das Sozialgericht annehmen, die Beschwerdeführerin hätte davon ausgehen müssen, dass aus Sicht des Jobcenters alles dafür sprach, dass der Beschwerdeführerin ein entsprechender Bescheid zugegangen war. Insofern ist die Begründung des Sozialgerichts, wonach der Beschwerdeführerin eine Nachfrage bei dem beklagten Jobcenter vor Erhebung der Untätigkeitsklage zumutbar gewesen sei, nachvollziehbar und vertretbar.
2. Da die Verfassungsbeschwerde nicht begründet ist, scheidet die Erstattung von Auslagen nach § 34a Abs. 2 BVerfGG aus. Gründe für die Anordnung einer Auslagenerstattung, die nach § 34a Abs. 3 BVerfGG im Ermessen des Bundesverfassungsgerichts steht, sind nicht ersichtlich.
Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Ott | Radtke | Wolff | |||||||||