Beschluss vom 20. März 2025

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BUNDESVERFASSUNGSGERICHT


- 2 BvR 110/23 -

In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde


der Frau (…),



- Bevollmächtigte:
  1.        (…),



  2.        (…) -
 


1.     unmittelbar gegen

         a)     den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts
                  vom 25. Mai 2022 - 2 WRB 2.21 -,


         b)     den Beschluss des Truppendienstgerichts Süd
                  vom 18. November 2020 - S 4 BLc 1/20 -,


         c)      den Bescheid des Kommandos Informationstechnik der Bundeswehr
                  vom 16. Januar 2020 - B07-19 -,


         d)     die Disziplinarmaßnahme des Kommandos 
                  Informationstechnik der Bundeswehr
                  vom 1. August 2019 - Personenkennziffer (…) -,


2.     mittelbar gegen

         § 17 Absatz 2 Satz 3 Soldatengesetz
 


hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Vizepräsidentin König

und die Richter Frank,
 
Wöckel

gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung
vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)
am 20. März 2025 einstimmig beschlossen:

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

G r ü n d e :

I.

1

Die Beschwerdeführerin, eine Soldatin, wendet sich gegen die disziplinarrechtliche Ahndung ihres Nutzerprofils auf einer Dating-Plattform während ihrer Verwendung als Bataillonskommandeurin und Standortälteste. Mittelbar greift sie die gesetzliche Grundlage der als verletzt geahndeten Pflicht zum außerdienstlichen Wohlverhalten an, die sie für verfassungswidrig hält.

2

1. Die Pflicht zum außerdienstlichen Wohlverhalten ist in § 17 Abs. 2 Satz 3 des Gesetzes über die Rechtsstellung der Soldaten (Soldatengesetz – SG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 30. Mai 2005 (BGBl I S. 1482), zuletzt geändert durch Art. 6 des Gesetzes vom 27. Februar 2025 (BGBl I Nr. 72), geregelt. § 17 Absätze 1 und 2 SG lauten:

(1) Der Soldat hat Disziplin zu wahren und die dienstliche Stellung des Vorgesetzten in seiner Person auch außerhalb des Dienstes zu achten.

(2) 1Sein Verhalten muss dem Ansehen der Bundeswehr sowie der Achtung und dem Vertrauen gerecht werden, die sein Dienst als Soldat erfordert. 2Der Soldat darf innerhalb der dienstlichen Unterkünfte und Anlagen auch während der Freizeit sein Gesicht nicht verhüllen, es sei denn, dienstliche oder gesundheitliche Gründe erfordern dies. 3Außer Dienst hat sich der Soldat außerhalb der dienstlichen Unterkünfte und Anlagen so zu verhalten, dass er das Ansehen der Bundeswehr oder die Achtung und das Vertrauen, die seine dienstliche Stellung erfordert, nicht ernsthaft beeinträchtigt.

3

2. Die Beschwerdeführerin ist Berufssoldatin im Dienstgrad eines Oberstleutnants und war von 2017 bis 2020 als Kommandeurin des Informationstechnikbataillons (…) und Standortälteste am Standort (…) eingesetzt. Im Jahr 2019 legte sie ein Nutzerprofil auf der Dating-Plattform „Tinder“ an. Neben einem Foto der Beschwerdeführerin enthielt das Profil den Text „A. (…) Spontan, lustvoll, trans*, offene Beziehung und auf der Suche nach Sex. All genders welcome“. Nachdem ein von einem nicht identifizierten Nutzer der Dating-Plattform erzeugter Screenshot des Nutzerprofils der Beschwerdeführerin mit ihrem Profilbild und dem Profiltext offenbar innerhalb der Truppe kursierte, gelangte der Screenshot auf ungeklärtem Weg an die Personalführung der Bundeswehr, die diesen an den Dienstvorgesetzten der Beschwerdeführerin übermittelte.

4

3. Nach Anhörung der Beschwerdeführerin verhängte der Dienstvorgesetzte am 1. August 2019 wegen des Nutzerprofils den vertrauensgegenständlichen Verweis gegen sie.

5

4. Die von der Beschwerdeführerin gegen den Verweis erhobene Beschwerde wies das Kommando Informationstechnik der Bundeswehr mit dem angegriffenen Bescheid vom 16. Januar 2020 als unbegründet zurück. Es liege eine ernsthafte Beeinträchtigung sowohl des Ansehens der Bundeswehr als auch der Achtung und des Vertrauens, die die dienstliche Stellung der Beschwerdeführerin erfordere, vor. Das im Tenor der Disziplinarmaßnahme festgestellte Verhalten verletze daher beide Alternativen der außerdienstlichen Wohlverhaltenspflicht aus § 17 Abs. 2 Satz 3 SG.

6

5. Gegen den Bescheid vom 16. Januar 2020 erhob die Beschwerdeführerin weitere Beschwerde beim Truppendienstgericht Nord, welches das Verfahren an das Truppendienstgericht Süd verwies. Mit dem ebenfalls angegriffenen Beschluss vom 18. November 2020 wies das Truppendienstgericht Süd die weitere Beschwerde als unbegründet zurück. Das Truppendienstgericht teilte die Auffassung des Disziplinarvorgesetzten, dass die Beschwerdeführerin durch das disziplinarisch geahndete Verhalten ihre Pflicht zum außerdienstlichen Wohlverhalten aus § 17 Abs. 2 Satz 3 SG in ihren beiden Alternativen verletzt habe. Durch die Disziplinarmaßnahme werde nicht in ihren grundgesetzlich geschützten privaten Lebensbereich eingegriffen.

7

6. Die auf die Nichtzulassungsbeschwerde vom Truppendienstgericht Süd wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassene Rechtsbeschwerde der Beschwerdeführerin wies das Bundesverwaltungsgericht mit dem angegriffenen Beschluss vom 25. Mai 2022 zurück.

8

Zwar habe das Truppendienstgericht zu Unrecht eine Verletzung des Ansehens der Bundeswehr im Sinne von § 17 Abs. 2 Satz 3 Alternative 1 SG angenommen. Da sich die Beschwerdeführerin ohne Erwähnung ihrer dienstlichen Stellung um intime Kontakte bemüht habe, fehle der erforderliche funktionelle Zusammenhang zur Bundeswehr. Auch die Begründung, mit der das Truppendienstgericht eine ernsthafte Beeinträchtigung der Achtungs- und Vertrauenswürdigkeit der Beschwerdeführerin im Sinne von § 17 Abs. 2 Satz 3 Alternative 2 SG angenommen habe, überzeuge nur teilweise. Nicht hinreichend berücksichtigt habe das Truppendienstgericht, dass sich die nähere Bestimmung des Umfangs der außerdienstlichen Wohlverhaltenspflicht nicht allein daran orientiere, welches Maß an Zurückhaltung des Soldaten in seiner privaten Lebensführung im Hinblick auf die dienstlichen Interessen ideal wäre. Die private Lebensführung von Soldaten dürfe nach § 17 Abs. 2 Satz 3 SG nur eingeschränkt werden, wenn das Verhalten eine „ernsthafte“ Belastung des beruflichen Achtungs- und Vertrauensverhältnisses nach sich ziehen könne, was aufgrund einer Würdigung der Einzelfallumstände aus der Sicht eines verständigen Betrachters festzustellen sei. In diese Bewertung müsse auch einfließen, ob und inwieweit das außerdienstliche Verhalten eines Soldaten grundrechtlichem Schutz unterliege. Ein grundrechtlich geschütztes Verhalten könne zwar Beschränkungen unterliegen, soweit dies von Sinn und Zweck des konkreten soldatenrechtlichen Dienst- und Treueverhältnisses gefordert werde. Die Grundrechtsbetätigung im privaten Bereich dürfe aber nicht einseitig unter dem Blickwinkel dienstlicher Belange beschränkt werden. Vielmehr müsse § 17 Abs. 2 Satz 3 SG nach der sogenannten Wechselwirkungstheorie seinerseits im Lichte der Grundrechte ausgelegt werden.

9

Diesen Maßstäben werde die Entscheidung des Truppendienstgerichts nicht gerecht. Es habe die Bedeutung und Tragweite des Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG durch die Annahme verkannt, der grundrechtliche Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts beschränke sich allein auf den Kernbereich privater Lebensführung. Denn die Bekanntgabe persönlicher Partnerschaftsinteressen sei auch vom allgemeinen Persönlichkeitsrecht geschützt, wenn sie im Bereich der Sozialsphäre erfolge und dadurch nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes rechtlichen Beschränkungen unterliege. Eine Einschränkung dieses Rechts aufgrund der außerdienstlichen Wohlverhaltenspflicht des § 17 Abs. 2 Satz 3 SG könne nur erfolgen, wenn bei der gebotenen Abwägung des dienstlichen Interesses mit den von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützten privaten Interessen eine ernsthafte Beeinträchtigung der Achtungs- und Vertrauenswürdigkeit zu besorgen sei. Das Truppendienstgericht habe die hierfür erforderliche Gesamtwürdigung der Umstände nicht vorgenommen und auch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht berücksichtigt.

10

Die Entscheidung erweise sich jedoch nach § 23a Abs. 2 Satz 1 WBO in Verbindung mit § 144 Abs. 4 VwGO im Ergebnis aus anderen Gründen als richtig. Auch bei der erforderlichen Abwägung der dienstlichen und privaten Belange liege in dem Internetauftritt der Beschwerdeführerin eine Verletzung der außerdienstlichen Wohlverhaltenspflicht. Diese stelle besondere Anforderungen an Stabsoffiziere in der hervorgehobenen Stellung eines Bataillonskommandeurs. Gerade weil ein Kommandeur in Ausübung seiner Disziplinarbefugnisse auch sexistischen Äußerungen und sexuellen Belästigungen entgegentreten müsse, habe er bei Äußerungen im Internet mit sexuellem Bezug auf die für seine dienstliche Stellung erforderliche Achtungs- und Vertrauenswürdigkeit Rücksicht zu nehmen.

11

Dies bedeute nicht, dass ein Kommandeur auf eine seinem Lebensstil entsprechende Suche nach Sexualpartnern im Internet verzichten müsse. Allerdings müsse er bei der Wahl seiner Worte Rücksicht auf seine berufliche Stellung nehmen und auch Formulierungen vermeiden, die den falschen Eindruck einer sexuellen Disziplinlosigkeit erwecken könnten. Denn ein Disziplinarvorgesetzter könne erzieherische und disziplinare Maßnahmen wegen sexueller Verfehlungen nicht glaubhaft vermitteln, wenn seine Äußerungen über seinen eigenen Lebenswandel auf ein hemmungsloses Ausleben des Sexualtriebs hindeuteten. Anders als die nicht zu beanstandende Auswahl des Profilbildes sei der Werbetext „lustvoll … offene Beziehung … auf der Suche nach Sex … all genders welcome“ jedoch geeignet, den falschen Eindruck zu erwecken, die Beschwerdeführerin führe ein wahlloses Sexualleben oder strebe dies an.

12

Auch wenn dies objektiv betrachtet bei Kenntnis der Motive der Soldatin und sachgemäßer Auslegung des Textes bei längerem Nachdenken nicht der Fall sei, vermittelten die Betonung der Lust und der Suche nach Sex sowie der Nachklapp „all genders welcome“ beim ersten Durchlesen den falschen Anschein, es gehe um möglichst schnellen Sex mit Partnern gleich welchen Geschlechts; ein ungehemmtes Ausleben des Sexualtriebs sei besonders wichtig. Diese äußerst missverständliche Überspitzung des eigenen Anliegens sei weder für die beabsichtigte Grundrechtsausübung noch für die Werbewirksamkeit der Annonce erforderlich. Um der dienstlichen Akzeptanz willen, das heißt wegen der Erfordernisse des militärischen Dienstes (§ 6 Satz 2 SG), hätte die Formulierung vermieden werden müssen.

13

Wenngleich die Dienstpflichtverletzung im Ergebnis weniger schwer wiege als vom Truppendienstgericht angenommen, sei der verhängte Verweis als mildeste einfache Disziplinarmaßnahme noch verhältnismäßig, weil die mit ihm verbundene Belastung als eher gering anzusehen sei. Der Verweis hindere bei entsprechender Bewährung keine förderlichen Maßnahmen und werde gemäß § 8 Abs. 2 Satz 1 WDO in der Regel nach drei Jahren gelöscht.

14

Der Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts wurde dem Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin am 14. September 2022 zugestellt.

15

7. Mit ihrer unter dem 27. September 2022 gegen die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts erhobenen Anhörungsrüge machte die Beschwerdeführerin geltend, ihr Vortrag zur formellen Rechtswidrigkeit des Verweises wegen Unbestimmtheit sei unberücksichtigt geblieben. Auch werde ihr Vorbringen zu den näheren Umständen der Einleitung des Disziplinarverfahrens in den Entscheidungsgründen verzerrt, weil das Gericht es fälschlicherweise als Verfahrensrüge behandelt, nicht aber im Hinblick auf eine fehlerhafte Ausübung des Entschließungsermessens zur Einleitung des Disziplinarverfahrens gewürdigt habe. Zudem habe das Gericht den Vortrag der Beschwerdeführerin nicht einbezogen, wonach es sich bei der Dating-Plattform um ein geschlossenes System handele. Ferner gehe das Bundesverwaltungsgericht in seinen tragenden Ausführungen nicht auf das Vorbringen ein, dass das Tatbestandsmerkmal der ernsthaften Beeinträchtigung (§ 17 Abs. 2 Satz 3 SG) nicht erfüllt sei. Schließlich habe das Bundesverwaltungsgericht nicht die mit der Rechtsbeschwerde geltend gemachten Bedenken im Hinblick auf die Wahrung des Zitiergebots ausgeräumt.

16

8. Das Bundesverwaltungsgericht wies die Anhörungsrüge mit Beschluss vom 30. November 2022, der dem Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin am 19. Dezember 2022 zugestellt wurde, als unbegründet zurück.

II.

17

Am 14. Oktober 2022 hat die Beschwerdeführerin Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. Mai 2022, den vorhergehenden Beschluss des Truppendienstgerichts Süd sowie den Verweis selbst erhoben.

18

1. Die Beschwerdeführerin rügt die Verletzung ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts in seiner Ausprägung als Recht auf sexuelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG), des besonderen Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG, des allgemeinen Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG, ihres Grundrechts der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG), ihres grundrechtsgleichen Rechts auf Fürsorge des Dienstherrn (Art. 33 Abs. 5 GG) sowie des Bestimmtheitsgebots aus Art. 103 Abs. 2 GG.

19

Im Hinblick auf Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG trägt die Beschwerdeführerin vor, das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung umfasse die Möglichkeit, sexuelle Kontakte zu suchen und hierbei ehrlich und nach eigener Vorstellung das eigene Begehren zu thematisieren. Anders als es das Bundesverwaltungsgericht angenommen habe, seien die im Profiltext gewählten Formulierungen für ihre Grundrechtsausübung notwendig, da sie durch andere Formulierungen nicht die Menschen ansprechen könne, denen sie begegnen wolle. Die angegriffene Disziplinarmaßnahme komme einem Verbot der aktiven Nutzung von Dating-Portalen nahe, was für die Beschwerdeführerin als pansexuelle trans Frau besonders schwer wiege. Zudem nehme der Dienstherr mit dem Verweis Einfluss auf die Kommunikation der Beschwerdeführerin über ihr eigenes Begehren, welche einem besonderen grundrechtlichen Schutz unterliege. Der Beschwerdeführerin werde zugemutet, ihr Kommunikationsverhalten auf Empfänger auszurichten, die ihr Verhalten nicht im Ansatz einordnen könnten. Die vom Bundesverwaltungsgericht angenommene „äußerst missverständliche Überspitzung des eigenen Anliegens“ könne den Formulierungen auf dem Nutzerprofil genauso wenig entnommen werden wie die der Beschwerdeführerin unterstellte Hemmungs- und Disziplinlosigkeit.

20

In der disziplinarrechtlichen Bewertung liege ein autoritatives Unwerturteil über ein promiskuitives Privatleben. Dieses sei besonders problematisch, weil die angenommene Unvereinbarkeit eines promiskuitiven privaten Sexuallebens mit der Aufgabe, ein Bataillon zu führen, auf der nicht objektiv widerlegbaren Bewertung eines imaginierten Dritten beruhe, der sein moralisches Urteil nach den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts bereits beim ersten Durchlesen des von ihm zudem missverstandenen Profiltextes fälle. Da die Generalklausel des § 17 Abs. 2 Satz 3 SG zudem nicht den Vorgaben des Bestimmtheitsgebots und des Wesentlichkeitsprinzips genüge, fehle es bereits an einer verfassungskonformen Rechtsgrundlage für den Verweis. Schließlich verstoße die angegriffene Disziplinarmaßnahme gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Das Bundesverwaltungsgericht habe eine Auseinandersetzung mit den Grundrechten der Beschwerdeführerin und einem legitimen Zweck sowie der Geeignetheit und der Angemessenheit der disziplinarischen Maßnahme in den tragenden Gründen vollständig unterlassen. Dem Verweis fehle es an jeder Eignung und empirischen Evidenz zur Förderung der Funktionsfähigkeit der Bundeswehr.

21

2. Am 24. November 2022 hat die Beschwerdeführerin mitgeteilt, dass sich nach Erhebung der Verfassungsbeschwerde eine Änderung der Sachlage ergeben habe. Aus einem Schriftsatz des Bundeswehrdisziplinaranwalts im Anhörungsrügeverfahren beim Bundesverwaltungsgericht, der ihr am 18. Oktober 2022 zugegangen sei, gehe hervor, dass der angegriffene Verweis vom 1. August 2019 fristgerecht nach § 8 Abs. 2 Satz 1 WDO getilgt worden sei. Die Verfassungsbeschwerde bleibe gleichwohl zulässig, weil die Beschwerdeführerin durch den Verweis und die ihn bestätigenden Entscheidungen weiterhin beschwert sei. Die Bewertung des disziplinarrechtlich sanktionierten Verhaltens als dienstrechtswidrig und die damit verbundene Erwartung einer Verhaltensänderung bestünden fort, woraus sich eine Wiederholungsgefahr ergebe. Außerdem bestehe ein Rehabilitationsinteresse, das bei beamtenrechtlichen Disziplinarmaßnahmen generell angenommen werde.

III.

22

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil sie unzulässig ist. Sie genügt nicht den Darlegungs- und Substantiierungsanforderungen der § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG.

23

1. Nach § 23 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1, § 92 BVerfGG hat ein Beschwerdeführer den Sachverhalt, aus dem sich die Grundrechtsverletzung ergeben soll, substantiiert und schlüssig darzulegen (vgl. BVerfGE 81, 208 <214>; 113, 29 <44>; 130, 1 <21>; stRspr). Ferner muss sich die Verfassungsbeschwerde mit dem zugrundeliegenden einfachen Recht sowie mit der verfassungsrechtlichen Beurteilung des vorgetragenen Sachverhalts auseinandersetzen und hinreichend substantiiert aufzeigen, dass eine Grundrechtsverletzung möglich erscheint (vgl. BVerfGE 28, 17 <19>; 140, 229 <232 Rn. 9>; 149, 346 <359 Rn. 23>; stRspr). Richtet sich die Verfassungsbeschwerde gegen gerichtliche Entscheidungen, erfordert die substantiierte Darlegung einer Grundrechtsverletzung auch die argumentative Auseinandersetzung mit den Gründen der angegriffenen Entscheidungen (vgl. BVerfGE 105, 252 <264>; 140, 229 <232 Rn. 9>; 149, 346 <359 Rn. 24>).

24

Der allgemeinen Begründungslast der § 23 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1, § 92 BVerfGG genügt ein Beschwerdeführer überdies nur, wenn er auch zu den Sachentscheidungsvoraussetzungen seiner Verfassungsbeschwerde vorträgt, soweit deren Vorliegen nicht aus sich heraus erkennbar ist (vgl. BVerfGE 93, 266 <288>; 149, 346 <360 Rn. 25>; BVerfGK 5, 170 <171>; 14, 468 <469>). Zweck der Begründungsanforderungen in § 23 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1, § 92 BVerfGG ist es, dem Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit zu eröffnen, den angegriffenen Hoheitsakt ohne weitere Ermittlungen einer verfassungsrechtlichen Überprüfung zu unterziehen (vgl. BVerfGE 149, 346 <360 Rn. 25>).

25

2. Diesen Anforderungen genügt die Verfassungsbeschwerde nicht, weil die Beschwerdeführerin das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis nicht dargelegt hat. Die Beschwerdeführerin hat sich in ihrer Verfassungsbeschwerdeschrift nicht mit den einfachrechtlichen und verfassungsprozessualen Folgen des Umstands auseinandergesetzt, dass die angegriffene Disziplinarmaßnahme vom 1. August 2019 bereits im Zeitpunkt der Erhebung der Verfassungsbeschwerde nach den Vorschriften der Wehrdisziplinarordnung zu tilgen war.

26

a) Die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde setzt allgemein voraus, dass ein Rechtsschutzbedürfnis für die Aufhebung des angegriffenen Hoheitsaktes oder jedenfalls für die Feststellung seiner Verfassungswidrigkeit vorliegt (vgl. BVerfGE 81, 138 <140>; 146, 294 <308 ff. Rn. 24>). Dieses Rechtsschutzbedürfnis muss noch im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts fortbestehen (vgl. BVerfGE 21, 139 <143>; 30, 54 <58>; 33, 247 <253>; 50, 244 <247>; 56, 99 <106>; 72, 1 <5>; 81, 138 <140>; 146, 294 <309 24>). Der Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses führt grundsätzlich zur Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (vgl. BVerfGE 81, 138 <140>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 3. November 2015 - 2 BvR 2019/09 -, Rn. 23; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 23. August 2018 - 1 BvR 700/18 -, Rn. 6).

27

Das Rechtsschutzbedürfnis kann aber nach Erledigung des mit der Verfassungsbeschwerde verfolgten Begehrens fortbestehen, wenn entweder andernfalls die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage von grundsätzlicher Bedeutung unterbliebe und der gerügte Grundrechtseingriff besonders belastend erscheint, eine Wiederholung der angegriffenen Maßnahme zu besorgen ist oder die aufgehobene oder gegenstandslos gewordene Maßnahme den Beschwerdeführer noch weiterhin beeinträchtigt (vgl. BVerfGE 33, 247 <257 ff.>; 69, 161 <168>; 148, 296 <341 Rn. 108>; 159, 223 <273 Rn. 98> – Bundeswehrnotbremse I <Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen>; stRspr). Hat sich die angegriffene hoheitliche Maßnahme erledigt, ist es Sache des Beschwerdeführers, ein fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis darzulegen (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 12. Juli 2023 - 1 BvR 58/23 -, Rn. 8 m.w.N., vom 14. Dezember 2023 - 1 BvR 1889/23 -, Rn. 13 und vom 23. April 2024 - 1 BvR 1595/23 -, Rn. 16; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Mai 2022 - 2 BvR 661/22 -, Rn. 29 ff.; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. März 2023 - 2 BvR 1507/22 -, Rn. 53).

28

b) Die Beschwerdeführerin war danach gehalten, ein Rechtsschutzbedürfnis darzulegen. Aufgrund des Eintritts der Tilgungsreife des angegriffenen Verweises bereits vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde (aa) ist angesichts der weitreichenden gesetzlichen Folgen der Tilgungsreife von Disziplinarmaßnahmen (bb) ein fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis nicht schon aus sich heraus erkennbar (cc).

29

aa) Nach § 8 Abs. 2 Satz 1 Alternative 1 WDO ist eine einfache Disziplinarmaßnahme – wozu der Verweis gehört (§ 22 Abs. 1 Nr. 1 WDO) – nach drei Jahren zu tilgen. Die Tilgungsfrist beginnt im behördlichen Disziplinarverfahren nach § 8 Abs. 2 Satz 2 Alternative 1 WDO mit dem Tag, an dem die Disziplinarmaßnahme verhängt wird (§ 37 WDO). Anders als im Beamtendisziplinarrecht (vgl. § 16 Abs. 2 Satz 1 BDG) kommt es seit der Neuordnung des Wehrdisziplinarrechts im Jahr 1972 durch Gesetz vom 21. August 1972 (BGBl I S. 1481) nicht mehr auf die Unanfechtbarkeit der Disziplinarmaßnahme an (vgl. zur Umgestaltung der Tilgungsvorschriften Dau, NZWehrr 1972, S. 163 <171 f.>). Dies hat zur Folge, dass die Einlegung von Rechtsbehelfen im Wehrdisziplinarrecht keinen Einfluss auf den Beginn der Tilgungsfrist hat (vgl. Dau/Schütz, WDO, 8. Aufl. 2022, § 8 Rn. 6; Lingens, in: Fürst, GKÖD, Beamtenrecht des Bundes und der Länder, Richterrecht und Wehrrecht, Bd. 1, Teil 5c, Yt § 8 Rn. 4 <Dez. 2023>).

30

Die dreijährige Tilgungsfrist aus § 8 Abs. 2 Satz 1 Alternative 1 WDO begann hier daher mit dem Verhängen des Verweises am 1. August 2019 zu laufen. Damit war die Disziplinarmaßnahme bei Erhebung der Verfassungsbeschwerde am 14. Oktober 2022 bereits tilgungsreif.

31

bb) Nach § 8 Abs. 7 Halbsatz 1 WDO dürfen Disziplinarmaßnahmen nicht mehr berücksichtigt werden, wenn sie zu tilgen sind. Die Disziplinarmaßnahmen sind aus dem Disziplinarbuch (§ 7 WDO) und aus den Personalakten zu entfernen (§ 8 Abs. 7 Halbsatz 2 WDO). Nach Ablauf der Tilgungsfrist darf der Soldat jede Auskunft über die Disziplinarmaßnahme sowie über den zu Grunde liegenden Sachverhalt verweigern (§ 8 Abs. 8 Satz 1 WDO) und erklären, dass er nicht gemaßregelt worden ist (§ 8 Abs. 8 Satz 2 WDO). Unterlagen über die Feststellung des Dienstvergehens sind bereits nach zwei Jahren aus den Personalakten zu entfernen (§ 8 Abs. 9 Satz 1 WDO), wobei auch insoweit für den Fristbeginn der Tag maßgeblich ist, an dem die Disziplinarmaßnahme verhängt wird (§ 8 Abs. 9 Satz 2, § 8 Abs. 2 Satz 2 WDO).

32

Dementsprechend entnehmen Rechtsprechung und Kommentarliteratur § 8 Abs. 7 WDO ein umfassendes Verwertungsverbot tilgungsreifer Disziplinarmaßnahmen (vgl. VG München, Urteil vom 11. Februar 2008 - M 15 K 06.3714 -, juris, Rn. 43; Dau/Schütz, WDO, 8. Aufl. 2022, § 8 Rn. 18; Lingens, in: Fürst, GKÖD, Beamtenrecht des Bundes und der Länder, Richterrecht und Wehrrecht, Bd. 1, Teil 5c, Yt § 8 Rn. 7 <Dez. 2023>).

33

cc) Diese weitreichenden begünstigenden Wirkungen der Tilgungsreife legen eine Erledigung des mit der Verfassungsbeschwerde verfolgten Begehrens bereits vor deren Erhebung nahe. Es erschließt sich nicht aus sich heraus, dass und inwieweit der angegriffene Verweis die Beschwerdeführerin gleichwohl noch beeinträchtigt oder ein sonstiger der in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannten Fälle eines Rechtsschutzbedürfnisses trotz Erledigung vorliegt. Die Beschwerdeführerin war daher gehalten, ein nach Eintritt der Tilgungsreife fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis darzulegen.

34

c) Dieser Obliegenheit ist die Beschwerdeführerin nicht nachgekommen. Sie hat sich in ihrer Verfassungsbeschwerdeschrift vom 14. Oktober 2022 nicht mit den einfachrechtlichen Voraussetzungen und Folgen der Tilgungsreife des angegriffenen Verweises sowie den sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde auseinandergesetzt.

35

aa) Es fehlt bereits an der durch § 23 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1, § 92 BVerfGG gebotenen Auseinandersetzung mit der einfachgesetzlichen Rechtslage im Hinblick auf die Tilgungsreife, deren Eintritt die Beschwerdeführerin ursprünglich übersehen zu haben scheint. Auch auf die von der Verfassungsrechtsprechung entwickelten Fallgruppen eines trotz Erledigung fortbestehenden Rechtsschutzbedürfnisses geht der Schriftsatz vom 14. Oktober 2022 nicht ein.

36

Die Notwendigkeit von Ausführungen dazu sowie zu einem etwaigen fortbestehenden Rechtsschutzbedürfnis hätten sich der Beschwerdeführerin aufdrängen müssen. Die Dauer und der Beginn der Tilgungsfrist sowie die weitreichenden Wirkungen der Tilgungsreife von Disziplinarmaßnahmen ergeben sich unmittelbar aus dem Wortlaut von § 8 Abs. 2 Sätze 1 und 2 sowie § 8 Absätze 7 und 8 WDO. Zudem wird die maßgebliche Tilgungsvorschrift des § 8 Abs. 2 Satz 1 WDO unter Rn. 39 der angegriffenen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts im Zusammenhang mit der Verhältnismäßigkeit der verhängten Disziplinarmaßnahme ausdrücklich erwähnt.

37

bb) Dass die Beschwerdeführerin mit Schriftsatz vom 24. November 2022 ergänzend zur Tilgung der angegriffenen Disziplinarmaßnahme und zum Fortbestand des Rechtsschutzbedürfnisses vorgetragen hat, vermag den Darlegungsmangel nicht zu beheben, weil der Schriftsatz nicht innerhalb der Verfassungsbeschwerdefrist (§ 93 Abs. 1 BVerfGG) eingereicht wurde.

38

(1) Die Verfassungsbeschwerde ist innerhalb der einmonatigen Frist des § 93 Abs. 1 BVerfGG nicht nur einzulegen, sondern auch in einer § 23 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1, § 92 BVerfGG genügenden Weise zu begründen (vgl. BVerfGE 81, 208 <214 f.>). Zwar kann die Begründung nachträglich in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht ergänzt werden (vgl. BVerfGE 81, 208 <214 f.>; 127, 87 <111>). Dies ändert aber nichts daran, dass bereits bei Ablauf der Monatsfrist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG eine ausreichend begründete und damit zulässige Verfassungsbeschwerde vorgelegen haben muss (vgl. BVerfGE 5, 1 <2>; 12, 319 <321 f.>; 18, 85 <89>; 81, 208 <214 f.>; 84, 212 <223>; 127, 87 <111>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 21. Mai 2001 - 2 BvR 662/01 -, Rn. 3; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 14. Februar 2024 - 2 BvR 1816/23 -, Rn. 3 m.w.N.).

39

(2) Bei Einreichung des Schriftsatzes vom 24. November 2022 war die Frist aus § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG bereits abgelaufen. Sie hatte nach § 93 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG mit Zustellung der angegriffenen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts über die Rechtsbeschwerde am 14. September 2022 zu laufen begonnen.

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Die gegen diese Entscheidung erhobene Anhörungsrüge der Beschwerdeführerin war nicht geeignet, die Frist zur Einlegung der Verfassungsbeschwerde hinauszuschieben, weil sie offensichtlich aussichtslos war (vgl. BVerfGE 134, 106 <113 f. Rn. 23>; BVerfGK 7, 115 <116>). Offensichtlich aussichtslos ist eine Anhörungsrüge unter anderem dann, wenn das Vorbringen als von vornherein ungeeignet erscheint, eine Gehörsverletzung darzulegen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 29. März 2007 - 2 BvR 120/07 -, Rn. 11 f.; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. August 2010 - 2 BvR 619/10 -, Rn. 1 f.; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 29. September 2020 - 2 BvR 412/20 -, juris, Rn. 2 f.; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 12. Oktober 2020 - 2 BvR 2460/18 -, Rn. 4).

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Vorliegend konnten bei der Beschwerdeführerin keine Zweifel über die Aussichtslosigkeit der Anhörungsrüge bestehen, weil ihr Vorbringen offensichtlich ungeeignet war, eine Gehörsverletzung durch den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. Mai 2022 darzulegen.

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(a) Soweit sie eine unzureichende Berücksichtigung ihres Vorbringens zu einer Verletzung des Bestimmtheitsgebots durch den angegriffenen Verweis gerügt und dies damit begründet hatte, das Bundesverwaltungsgericht habe dazu „nur pauschal fest[gestellt], der Verweis genüge jedenfalls in der Form und mit dem Inhalt, den er im Beschwerde- und Gerichtsverfahren erhalten hat, dem Bestimmtheitsgebot“, war das schon sachlich unzutreffend. Das Bundesverwaltungsgericht hat es offensichtlich nicht bei einer „pauschalen Feststellung“ belassen, sondern ausgeführt, dass der Verweis Zeit, Ort und Sachverhalt des Dienstvergehens im Sinne von § 37 Abs. 3 Satz 2 WDO hinreichend klar erkennen lasse. Es hat dies sowohl hinsichtlich der zeitlichen Eingrenzung als auch für den Ort des Geschehens sowie den vorgeworfenen Sachverhalt näher begründet (vgl. Rn. 14 der Entscheidungsgründe). Damit ist es ersichtlich auf die diesbezüglichen Beanstandungen der Beschwerdeführerin in der Beschwerdebegründung vom 19. November 2019, auf die sie in der Begründung der Rechtsbeschwerde vom 14. Juli 2021 pauschal Bezug genommen hatte, eingegangen. Welches Vorbringen es dabei übergangen haben soll, ging aus der Begründung der Anhörungsrüge nicht hervor. Diese beschränkte sich auf den bisherigen Vortrag ergänzende rechtliche Ausführungen zur Bedeutung des Bestimmtheitsgebots sowie dazu, weshalb der angegriffene Verweis diesen Anforderungen nicht genüge.

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(b) Entsprechendes gilt für die Rüge einer Gehörsverletzung hinsichtlich einer fehlerhaften Ermessensausübung bei der Einleitung des Disziplinarverfahrens. Auch insoweit war die Begründung der Anhörungsrüge offensichtlich sachlich unzutreffend. Sie stellte ein vom Bundesverwaltungsgericht gewürdigtes Vorbringen nachträglich in einen anderen rechtlichen Kontext, um dem Gericht eine unterlassene Würdigung des Vorbringens in diesem anderen Kontext vorzuhalten. Das Vorbringen betraf die ungeklärte Herkunft des Screenshots des Tinder-Profils der Beschwerdeführerin. Insoweit hatte sie in der Begründung der Rechtsbeschwerde (unter der Überschrift „formelle Rechtswidrigkeit“) ein Beweisverwertungsverbot geltend gemacht. Dieses Vorbringen hat das Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich – als unzulässig erhobene Verfahrensrüge – gewürdigt (vgl. Rn. 10 f. der Entscheidungsgründe). Erstmals in der Begründung der Anhörungsrüge bezog die Beschwerdeführerin das Vorbringen auf das Entschließungsermessen zur Einleitung des Disziplinarverfahrens, womit auch die materielle Rechtmäßigkeit des Verweises berührt sei.

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(c) Offensichtlich aussichtslos war die Anhörungsrüge auch bezüglich des Vorbringens der Beschwerdeführerin, das Bundesverwaltungsgericht habe ihren Vortrag übergangen, dass ihre Aussagen auf dem Profil im spezifischen Kontext von Tinder keinen Anstoß erzeugten. Dazu bezog sie sich zum einen auf die Begründung der weiteren Beschwerde vom 20. Mai 2020; darin hatte sie insoweit geltend gemacht, das Profil sei nur im geschlossenen System von Tinder sichtbar gewesen und unter Bruch der Allgemeinen Geschäftsbedingungen des Portals an ihren Vorgesetzten weitergegeben worden. Zum anderen nahm sie auf die Begründung der Rechtsbeschwerde Bezug; darin hatte sie die Einschätzung des Truppendienstgerichts, auf den Charakter von Tinder als geschlossenes System komme es nicht an, entscheidend sei vielmehr, dass die Beschwerdeführerin von anderen Nutzern wegen des regional eingegrenzten Suchbereichs des Portals aufgrund ihrer besonderen Stellung in der Bundeswehr und in der Region erkannt werden könne, als „wenig evidenzbasiert oder verständlich“ sowie widersprüchlich beanstandet, „solange die Kammer sich nicht mit dem konkreten Nutzerkreis des geschlossenen Systems befasst, da andernfalls die Reichweite und damit die erwartete Gefahr nicht hinreichend bewertet werden kann“. Auf diese Argumentation ist das Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich eingegangen (vgl. Rn. 25 der Entscheidungsgründe). Die Rüge eines Übergehens des Vorbringens war insofern offensichtlich substanzlos. Bei den weiteren Ausführungen in der Anhörungsrüge zu eigenen Kommunikationsregeln und spezifischen Wahrnehmungsbedingungen auf Tinder und deren Relevanz für die „entscheidende Frage nach dem Empfängerhorizont“ handelte es sich um neues Vorbringen, das zur Begründung einer Gehörsverletzung von vornherein ungeeignet ist.

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(d) Die Rüge, das Bundesverwaltungsgericht sei auf Vorbringen zum Tatbestandsmerkmal der „ernsthaften Beeinträchtigung“ im Sinne von § 17 Abs. 2 Satz 3 SG nicht eingegangen, war ebenfalls offensichtlich substanzlos. Die Beschwerdeführerin hatte insoweit in der Begründung der weiteren Beschwerde auf die Erforderlichkeit einer Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls sowie darauf hingewiesen, bei der Bewertung außerdienstlichen Verhaltens dürfe nicht außer Betracht bleiben, dass nach dem Normzweck nicht schon jedes Fehlverhalten im privaten Bereich erfasst und auf sich wandelnde Auffassungen in der Gesellschaft Bedacht zu nehmen sei. In der Begründung der Rechtsbeschwerde hatte sie dies wortgleich wiederholt. Das Bundesverwaltungsgericht hat sich mit diesem Vorbringen auseinandergesetzt und ist dabei insbesondere auch von der Notwendigkeit einer Würdigung aller Umstände des Einzelfalls ausgegangen (vgl. Rn. 27 f. der Entscheidungsgründe). Der Sache nach wandte sich die Anhörungsrüge insoweit lediglich dagegen, dass das Bundesverwaltungsgericht bei dieser Gesamtwürdigung zu einer anderen rechtlichen Einschätzung gelangte als die Beschwerdeführerin. Dagegen schützt das Gebot rechtlichen Gehörs nicht.

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(e) Schließlich war die Anhörungsrüge auch insoweit offensichtlich aussichtslos, als die Beschwerdeführerin beanstandete, das Bundesverwaltungsgericht habe sich mit ihrem Vorbringen zu einem Verstoß des § 17 Abs. 2 Satz 3 SG gegen das Zitiergebot nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG nicht befasst. Eines ausdrücklichen Eingehens hierauf bedurfte es schon deswegen nicht, weil Gerichte namentlich bei letztinstanzlichen, mit ordentlichen Rechtsmitteln nicht mehr angreifbaren Entscheidungen nicht verpflichtet sind, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen (vgl. BVerfGE 65, 293 <295>; 70, 288 <293>; 86, 133 <145 ff.>). Eine Verletzung des Zitiergebots bildete nicht den Kern des Vorbringens der Beschwerdeführerin und erschien überdies fernliegend. Das Zitiergebot betrifft nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lediglich Grundrechte, die nach dem Wortlaut des Grundgesetzes nur aufgrund ausdrücklicher Ermächtigung vom Gesetzgeber eingeschränkt werden dürfen (vgl. BVerfGE 10, 89 <99>; 28, 36 <46>; 64, 72 <79 f.>; 83, 130 <154>; 129, 208 <236>; 156, 63 <130 Rn. 231> – Elektronische Aufenthaltsüberwachung; 162, 378 <416 f. Rn. 92> – Impfnachweis (<Masern>)), und greift daher vorliegend nicht.

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3. Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

  • König
  • Frank
  • Wöckel

European Case Law Identifier (ECLI):

ECLI:DE:BVerfG:2025:rk20250320.2bvr011023

Zitiervorschlag:

BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 20. März 2025 - 2 BvR 110/23 -, Rn. 1-48,
https://www.bverfg.de/e/rk20250320_2bvr011023