Urteil vom 23. Oktober 1952 - 1 BvB 1/51
Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat am heutigen Tage das Urteil in dem Verfahren gegen die Sozialistische Reichspartei verkündet. Die SRP ist verfassungswidrig und wird deshalb aufgelöst. Die Schaffung von Ersatzorganisationen ist verboten. Das Vermögen der Partei verfällt dem Bunde für gemeinnützige Zwecke. Die Abgeordneten der Partei im Bundestag und in den Landtagen verlieren ihre Mandate und können nicht durch auf den Listen nachrückende Ersatzmänner ersetzt werden.
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts beruht auf Art. 21 des Grundgesetzes. Diese Verfassungsbestimmung wird der Tatsache gerecht, daß der in Wahlen und Abstimmungen vom Volke als dem Träger der Staatsgewalt betätigte Wille in der Wirklichkeit des modernen großen Staates nur durch das Mittel der Parteien als politischer Handlungseinheiten in Erscheinung treten kann. Der Verfassungsgesetzgeber garantiert deshalb die freie Bildung und Betätigung politischer Parteien. Aber hat er diese Freiheiten solchen Parteigebilden versagt, die die tragenden Grundsätze der Demokratie nicht anerkennen und die formalen Mittel der Demokratie dazu mißbrauchen wollen, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beseitigen. Um die Gefahr des Mißbrauchs einer Parteiverbots zu bannen hat er die Entscheidung über die Frage der Verfassungsmäßigkeit von Parteien nicht in die Hände der Exekutive oder der gesetzgebenden Körperschaften gelegt, sondern dem Bundesverfassungsgericht übertragen und die Voraussetzungen für eine solche Feststellung tatbestandsmäßig umrissen.
Mit dieser Ausprägung des Art. 21 des Grundgesetzes ist die Lehre aus den bitteren Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit gezogen worden. Der Vorgang einer Unterwühlung und schließlichen Beseitigung der Demokratie durch die Nationalsozialisten soll sich nicht in dieser oder ähnlicher Form wiederholen, die willkürliche Unterdrückung anderer Parteien durch die Exekutive, wie sie das nationalsozialistische Regime betätigte, in gleicher Weise ausgeschlossen sein. Der Urteilsspruch des Bundesverfassungsgerichts erhält deshalb ein besonderes Gewicht dadurch, daß er eine Parteigründung unbelehrbarer Nationalsozialisten trifft und die SRP als Nachfolgeorganisation der NSDAP entlarvt. Das ist der klassische Anwendungsfall des Artikel 21 Abs. 2 GG. Das 98 Seiten umfassende Urteil gliedert sich in acht Abschnitte. Nach einer einleitenden Darstellung der Entstehung und Entwicklung der SRP, die nach der Gründung am 2. Oktober 1949 die Lizenzierung ihres niedersächsischen Landesverbandes bei der regionalen Militärregierung beantragte, bringt das Urteil die Anträge der Bundesregierung und der SRP und eine Zusammenfassung des beiderseitigen Vorbringens, sodann einen Überblick über die Prozessgeschichte. Es folgt die Erörterung prozessualer Vorfragen, dabei die Zurückweisung des Einwands, daß das Gericht mit 11 Richtern nicht ordnungsgemäß besetzt sei und die Darlegung der rechtlichen Voraussetzungen des Art. 21 GG. Der folgende 6. Abschnitt umreißt mit einem prägnanten Überblick über Wesen und Entwicklung der deutschen Rechtspartei, in Sonderheit der NSDAP, den Hintergrund, vor dem sich dann die im 7. Abschnitt folgende und in fünf Unterabschnitte gegliederte, allein 60 Seiten umfassende Beweiswürdigung vollzieht. Im letzten Abschnitt kommt das Gericht zum rechtlichen Fazit und gibt vor allem die Begründung für die im Grundgesetz und im Gesetz über das Bundesverfassungsgericht nicht ausdrücklich vorgesehene, aber aus dem Grundgedanken des Art. 21 GG abzuleitende Aberkennung der Mandate.
Die Würdigung des enormen, vom Gericht in einer zehntägigen Verhandlung erörterten Beweismaterials macht den Kern der Entscheidungsgründe aus. Sie wird durch eine grundlegende Erörterung der Methoden eingeleitet, mit denen im modernen Staat Machtkämpfe mit dem Ziel der Beseitigung der bestehenden Ordnung geführt werden: Statt zu offener und unmittelbarer Gewalt greift man in steigendem Maße zu den Mitteln innerer Zersetzung. Unter Vortäuschung einer scheinbaren Legalität, die
- wie das Beispiel Hitlers gezeigt hat - in ausdrücklichen Loyalitätserklärungen, ja im Eid auf die Verfassung gipfeln kann, und hinter einem Programm, das die wirklichen Ziele nicht erkennen lässt, vollzieht sich die moderne Revolution in einer Unzahl feindseiger Einzelakte, von denen jeder der für sich betrachtet verhältnismäßig unbedeutend erscheint und die erst in ihrer Zusammenschau das revolutionäre Ziel hervortreten lassen. Es entspricht dieser Erkenntnis, wenn Art. 21 GG nicht nur auf die Ziele der Partei sondern auch auf das Verhalten ihrer Anhänger abstellt, da sich in diesem Verhalten die wahren Absichten einer modernen revolutionären Partei oft am untrüglichsten widerspiegeln.
Das nun im einzelnen ausgebreitete Beweisergebnis gewinnt, wie das Urteil hervorhebt, dadurch ein besonderes Gewicht, daß die SRP die Möglichkeit besaß, Belastungsmaterial in großem Umfang beiseite zu schaffen, und daß sich von dieser Möglichkeit erwiesenermaßen Gebrauch gemacht hat, ehe das Bundesverfassungsgericht mit der Anordnung von Durchsuchungen und Beschlagnahmen eingreifen konnte.
Im einzelnen seien folgende aus der Beweisaufnahme gewonnene Feststellungen hervorgehoben:
Die Führungsschicht der SRP setzt sich vorwiegend aus ehemaligen alten und aktiven Nationalsozialisten zusammen. Die Partei betrachtet die Schicht der „alten Kämpfer“ als ihre natürliche Anhängerschaft und Führerreserve. Sie geht systematisch darauf aus, die Funktionsträger für die Schlüsselstellungen der Partei aus dieser Schicht heranzuziehen. Bezeichnend für die bei den Parteidienststellen beschlagnahmten Briefe ist die Tatsache, daß eine nationalsozialistische Vergangenheit und ein fortdauerndes Bekenntnis zur nationalsozialistischen Ideologie als notwendige und für sich allein ausreichende Qualifikation für Parteiämter angesehen wird.
Dem Bestreben der Parteiinstanzen, alte Nationalsozialisten planmäßig zum Aufbau der Organisation heranzuziehen, entspricht die ihnen entgegenkommende Neigung solcher früherer Nationalsozialisten, die unbelehrbar in den alten Vorstellungen beharren.
Die SRP wirkt auf sie, wie mit zahlreichen Briefzitaten belegt ist, wie ein Magnet. Sie werden mit offenen Armen aufgenommen, nie wird ein Wandel der Anschauung oder der Gesinnung erklärt oder gefordert. Im Gegenteil prahlt jeder mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit, und manche Zuschriften betonen ausdrücklich, daß der Schreiber seine frühere Einstellung unverändert beibehalten hat.
Das Organisationsbild der SRP ähnelt dem der NSDAP. Die Partei ist von oben nach unten im Geiste des Führerprinzips aufgebaut, das hier durch ein streng durchgeführtes Berufungs- und Betätigungssystem gekennzeichnet ist. Der in der Satzung kaum verhüllte autoritäre Charakter der Partei offenbart sich deutlich in der Parteipraxis. Über die satzungsgemäßen Vorrechte der Parteigründer hinaus wird nach dem Muster der NSDAP eine Begünstigung der alten Parteimitglieder angestrebt. Der Begriff der „alten Garde“ taucht auf. Mitglieder werden willkürlich, mitunter kollektiv durch Auslösung ganzer Gebietsverbände von oben her aus der Partei ausgeschlossen. Die Partei soll als politischer Orden aufgezogen werden, der auf dem Prinzip des absoluten Gehorsams beruht. In einem Schreiben vom 25.12.1950 offenbart der Parteivorsitzende seine Absicht, den Parteiapparat „nach den Grundsätzen eines Offizierkorps“ aufzubauen und „den rücksichtslosen Umbau im Sinne von Kader-Organisationen vorzunehmen“. Dem entsprechend werden Funktionäre in der Regel ernannt und nicht gewählt.
Das Programm der Partei, in dem ein klares Bekenntnis zur Demokratie fehlt, ist bewußt vorsichtig, dunkel und mehrdeutig formuliert. Erst im Zusammenhang mit den Äußerungen führender Funktionäre und dem Verhalten der Anhänger erschließt sich sein wirklicher Sinn mit eindeutigen Parallelen zum Nationalsozialismus. Man bekennt sich ohne Scheu zu Hitler. Die Propaganda folgt seinen Rezepten und Methoden bis in Einzelheiten wie etwa in der Verwendung des Schlagworts „Deutschland erwache“. Man empfiehlt für Kundgebungen den von Hitler bevorzugten Badenweiler Marsch. Man beginnt Versammlungen mit einer melodramatischen Totenfeier und erweckt damit in den Zuhörern das Gefühl, als seien die Gefallenen Träger der politischen Ideen der SRP gewesen. Bei Massenkundgebungen der SRP drängt sich unwillkürlich bis auf den Tonfall und Sprechweise der Redner und den hysterischen Beifall einer in Taumel versetzten Menge der Eindruck auf: Das ist eine Kundgebung der NSDAP.
Nach nationalsozialistischem Vorbild wird ein Blutzeugenkult betrieben. In Ermanglung eigener Blutzeugen hat man sich mit den sogenannten Landsbergern solidarisch erklärt, unter ihnen ein Ohlendorf, der in seiner eigenen Zeugenaussage zugab, daß auf seinen Befehl und zum Teil in seiner Gegenwart über 90.000 unschuldige Männer, Frauen und Kinder ums Leben gebracht wurden, weil sie Juden waren. Eine neue Dolchstoßlüge wird erfunden und verbreitet mit dem Ziel, im Bewußtsein des Volkes die Verantwortung für Deutschlands Schicksal von der NSDAP, der „großen Vorgängerin“ der SRP, auf die Gegner des Nationalsozialismus abzuwälzen. Der Verherrlichung des Nationalsozialismus entspricht die systematische, vor keiner Verdrehung und Verleumdung zurückschauende Herabsetzung der Organe der Bundesrepublik und ihrer Träger, wobei man sich eines auf Schritt und Tritt an die nationalsozialistische Zeit erinnernden Wortschatzes bedient. Alle anderen Parteien werden in einer Weise bekämpft, die auf deren Ausschaltung auf dem politischen Leben abzielt. Man spricht ihnen mit dem Vorwurf, die vitalsten Interessen des deutschen Volkes zu verraten, die Daseinsberechtigung ab. Gesetze und Symbole der im Grundgesetz verwirklichten Demokratie werden zynisch mißachtet. Antisemitische Tendenzen und terroristische Neigungen gegenüber politischen Gegnern treten unverkennbar hervor.
Mit der angeblichen Selbstauflösung der SRP setzt sich das Gericht im letzten Abschnitt des Urteils auseinander. Es bezeichnet diese Selbstauflösung, die allein von der Parteileitung beschlossen wurde, wegen Verstoßes gegen die zwingende Vorschrift des Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG als nichtig. „ Die Entscheidung über die Existenz einer politischen Partei, die ihrer Bedeutung nach von einem möglichst großen Gremium getroffen werden müßte, kann nicht in das freie Belieben einer autoritären Spitze aus wenigen Funktionären gestellt werden. Auch eine von dieser autoritären Spitze eingeholte Zustimmung der Parteimitglieder zu einer so verfügten Auflösung vermag diesen Mangel nicht zu beheben. Eine solche „Akklamation“ ohne Diskussion ist keine demokratische Abstimmung“.
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Verfahren gegen die SRP hat einen neuen wesentlichen Beitrag zur Auslegung des Grundgesetzes geleistet. Sie besitzt eine staatspolitische Tragweite von wohl noch nicht übersehbaren Ausmaßen. Sie macht das Wort wahr, daß die Feinde der Freiheit der Freiheit nicht wert sind und beweist, daß die junge deutsche Demokratie von lebendigem Geiste erfüllt und kein leeres Gefäß ist, daß man beliebig mißbrauchen und schließlich zertrümmern kann.