Bundesverfassungsgericht

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Informationen über das Verfassungsbeschwerde-Verfahren „Strafgerichtliche Verurteilungen im Zusammenhang mit der Tötung von DDR-Flüchtlingen an der innerdeutschen Grenze”

Pressemitteilung Nr. 66/1996 vom 8. November 1996

Aktenzeichen: 2 BvR 1851/94, 2 BvR 1852/94, 2 BvR 1853/94, 2 BvR 1875/94

Der Zweite Senat des BVerfG wird in Kürze seine Entscheidung über die Verfassungsbeschwerden (Vb’en) dreier ehemaliger Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrats (NVR) der DDR sowie die eines „Mauerschützen“ gegen ihre strafgerichtlichen Verurteilungen bekannt geben.

I.

Die Vb’en sind zur gemeinsamen Entscheidung verbunden worden. Dem Verfahren liegt folgender Sachverhalt zugrunde: 

1. Vb’en der ehemaligen NVR-Mitglieder (Az. 2 BvR 1851/94, 1853/94 und 1875/94) 

Die ehemaligen Mitglieder des NVR Hans Albrecht, Heinz Keßler und Fritz Streletz sind wegen der Tötung von DDR-Flüchtlingen durch Urteil des Landgerichts (LG) Berlin vom 16. September 1993 jeweils zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt worden. 

Im einzelnen:
- Albrecht wurde wegen Beihilfe zum Totschlag von sechs Flüchtlingen (Tatzeitraum Januar 1973 bis Februar 1989) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt (einbezogen wurden Einzelstrafen aus einer anderen, vorangegangenen Verurteilung).
- Keßler wurde wegen Anstiftung zum Totschlag von sieben Flüchtlingen (Tatzeitraum April 1971 bis Februar 1989) zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt.
- Streletz wurde wegen Anstiftung zur Totschlag von sechs Flüchtlingen (Tatzeitraum Januar 1973 bis Februar 1989) zu einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren und sechs Monaten verurteilt. 

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft änderte der BGH durch Urteil vom 26. Juli 1994 das Urteil des LG Berlin wie folgt ab: 

-       Alle drei damaligen Angeklagten wurden als Täter (nicht „nur“ als Gehilfe bzw. Anstifter) des Totschlags für schuldig befunden.
-       Hinsichtlich des Angeklagten Albrecht wurde die Strafe auf fünf Jahre und einen Monat erhöht. 

Im übrigen bestätigte der BGH das Urteil des LG Berlin; die Revision der Verurteilten blieb ohne Erfolg. 

Alle drei ehemaligen NVR-Mitglieder haben gegen ihre Verurteilungen Vb erhoben. Auf den weiteren Antrag des Beschwerdeführers (Bf) Streletz entschied die 2. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG am 13. Oktober 1994 im Wege der einstweiligen Anordnung, daß die rechtskräftig verhängte Freiheitsstrafe vorläufig nicht vollstreckt werden dürfe. Wegen der Einzelheiten wird auf die in der Anlage beigefügte Presseverlautbarung Nr. 40/94 Bezug genommen. 

2. Vb des „Mauerschützen“ (Az. 2 BvR 1852/94)

Der frühere Angehörige der DDR-Grenztruppen ist durch Urteil des LG Berlin vom 17. Juni 1993 wegen Totschlags eines DDR-Flüchtlings (Tatzeit Februar 1972) zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und zehn Monaten verurteilt worden. Die Vollstreckung der Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. 

Die vom damaligen Angeklagten gegen dieses Urteil eingelegte Revision verwarf der BGH durch Urteil vom 26. Juli 1994 als unbegründet. Hiergegen hat der Bf Vb erhoben. 

II.

In dem Verfahren geht es im wesentlichen um folgende verfassungsrechtliche Frage: 

Nach den Feststellungen in den Urteilen des BGH war zwar die Tötung von DDR-Flüchtlingen aufgrund der Bestimmungen über das Grenzregime, so wie diese zu den jeweiligen Tatzeiten in der Staatspraxis der DDR ausgelegt und angewendet wurden, gerechtfertigt und daher im Ergebnis nicht strafbar. Allerdings - so der BGH - sei dieser Rechtfertigungsgrund unbeachtlich, weil er einen offensichtlichen und schweren Verstoß gegen grundlegende Prinzipien der Gerechtigkeit und in internationalen Pakten allgemein anerkannte Menschenrechte (Leben, Freizügigkeit) darstelle. Statt dessen müsse eine „menschenrechtsfreundliche“ Auslegung der betreffenden Vorschriften über die Grenzsicherung zugrundegelegt werden. Ein solche hätte auch schon zur Tatzeit in der DDR vorgenommen werden können. Danach wäre das Verhalten der Bf nicht gerechtfertigt und mithin strafbar. 

Das verfassungsrechtliche Problem besteht darin, ob die Verurteilung der Beschwerdeführer mit dem Rückwirkungsverbot des Artikel 103 Absatz 2 GG vereinbar ist, der wie folgt lautet:
„…
Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.
…“

Verlautbarung
der Pressestelle des Bundesverfassungsgerichts
Nr. 40/94

 Durch eine einstweilige Anordnung setzte heute die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vorläufig die Vollstreckung der Freiheitsstrafe aus, die gegen das ehemalige Mitglied des Nationalen Verteidigungsrates der DDR Streletz wegen Totschlags verhängt worden war. Das Landgericht Berlin und der Bundesgerichtshof hatten Streletz sowohl nach dem zur Tatzeit geltenden Strafrecht der DDR als auch nach dem Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland als mitschuldig an der Tötung von sechs sogenannten Republikflüchtlingen an der innerdeutschen Grenze angesehen und der Staatspraxis der DDR, die derartige Tötungen als rechtmäßig ansah, wegen Unvereinbarkeit mit grundlegenden und allgemein anerkannten Menschenrechten keine rechtfertigende Wirkung zuerkannt. Streletz hat gegen die Verurteilung Verfassungsbeschwerde eingelegt und Aussetzung der drohenden Vollstreckung der Strafe bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde beantragt. 

Durch die einstweilige Anordnung ist dem letztgenannten Antrag entsprochen worden. Die Verfassungsbeschwerde wirft vor allem die Frage auf, ob es mit dem Verbot einer rückwirkenden Anwendung von Strafgesetzen (Art. 103 Abs. 2 GG) vereinbar ist, daß die Strafgerichte die frühere Auslegung der DDR-Gesetze durch die Staatspraxis der DDR als heute unbeachtlich angesehen haben. Die Frage ist im staats- und strafrechtlichen Schrifttum umstritten und durch das Bundesverfassungsgericht bisher nicht entschieden worden. Deshalb ist die Verfassungsbeschwerde nicht von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Eine weitergehende Prüfung der Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde findet bei der Entscheidung über eine einstweilige Anordnung nicht statt, so daß die getroffene Anordnung keinen Schluß auf den Ausgang des Verfassungsbeschwerde-Verfahrens erlaubt. Vielmehr werden nur die Folgen gegeneinander abgewogen, die der Erlaß und die Ablehnung der einstweiligen Anordnung haben können. Insoweit hat die Kammer einer - möglicherweise unberechtigten - Freiheitsentziehung, die dem Beschwerdeführer bei Ablehnung der einstweiligen Anordnung droht und nicht mehr rückgängig gemacht werden könnte, größeres Gewicht beigemessen als einem vorläufigen Aufschub der Strafvollstreckung durch eine einstweilige Anordnung. 

Beschluß vom 13. Oktober 1994 - 2 BvR 1875/94 - 

Karlsruhe, den 13. Oktober 1994