Bundesverfassungsgericht

Sie sind hier:

Erfolglose Verfassungsbeschwerden ehemaliger Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrats der DDR und eines "Mauerschützen" gegen strafgerichtliche Verurteilungen

Pressemitteilung Nr. 69/1996 vom 12. November 1996


Beschluss vom 24. Oktober 1996 - 2 BvR 1851/94, 2 BvR 1852/94, 2 BvR 1853/94, 2 BvR 1875/94

Der Zweite Senat des BVerfG hat einstimmig entschieden, daß die Verfassungsbeschwerden (Vb'en) der drei ehemaligen Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrats (NVR) der DDR, Albrecht, Keßler und Streletz, und die eines sogenannten Mauerschützen gegen ihre strafgerichtlichen Verurteilungen im Zusammenhang mit der Tötung von DDR-Flüchtlingen an der innerdeutschen Grenze zurückgewiesen werden. Die Urteile des Landgerichts (LG) Berlin und des Bundesgerichtshofs (BGH) sind von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Sie verletzen die Beschwerdeführer (Bf) nicht in Grundrechten oder grundrechtsgleichen Gewährleistungen.

Wegen des Sachverhalts wird auf die Pressemitteilung vom 8. November 1996 Nr. 66/96 Bezug genommen.

I.

Es verstößt nicht gegen das Rückwirkungsverbot aus Artikel 103 Abs. 2 GG, daß die Strafgerichte den Bf'ern die Berufung auf einen Rechtfertigungsgrund versagt haben, der sich aus den Vorschriften der DDR über das Grenzregime, wie sie in der Staatspraxis ausgelegt und angewendet wurden, ergab.

1. Das Rückwirkungsverbot ist absolut und erfüllt seine rechtsstaatliche und grundrechtliche Gewährleistungsfunktion durch eine strikte Formalisierung.

Artikel 103 Abs. 2 GG läßt eine Bestrafung nur zu, wenn die Tat im Zeitpunkt ihrer Begehung mit hinreichender Bestimmtheit in einem gesetzlichen Tatbestand mit Strafe bedroht ist. Die Vorschrift schützt darüber hinaus vor der Verhängung einer höheren als der zur Tatzeit gesetzlich angedrohten Strafe. Für den Bürger begründet das verfassungsrechtlich garantierte Rückwirkungsverbot das Vertrauen darauf, daß der Staat nur ein solches Verhalten, als strafbare Handlung verfolgt, für das der Gesetzgeber die Strafbarkeit und die Höhe der Strafe im Zeitpunkt der Tat gesetzlich bestimmt hat. Der Bürger kann danach sein Verhalten eigenverantwortlich so einrichten, daß er eine Strafbarkeit vermeidet.

Artikel 103 Abs. 2 GG verbietet es auch, die Bewertung des Unrechtsgehalts der Tat nachträglich zum Nachteil des Täters zu ändern. Deshalb ist ein bei Tatbegehung gesetzlich geregelter Rechtfertigungsgrund weiter anzuwenden, auch wenn dieser im Zeitpunkt des Strafverfahrens entfallen ist.

Allerdings hat Artikel 103 Abs. 2 GG als Regelfall im Blick, daß die Tat im Anwendungsbereich des vom GG geprägten materiellen Strafrechts der Bundesrepublik Deutschland begangen und abgeurteilt wird. In diesem Normalfall bietet das von einem an die Grundrechte gebundenen Gesetzgeber erlassene Strafrecht die Grundlage für den von Artikel 103 Abs. 2 GG gewährten absoluten und strikten Vetrauensschutz. Dies gilt nicht mehr uneingeschränkt, wenn als Folge der Wiedervereinigung gesetzlich vorgeschrieben ist, daß für die Beurteilung von Straftaten, die in der ehemaligen DDR begangen worden sind, das Strafrecht der DDR anzuwenden ist. Die besondere Vertrauensgrundlage entfällt, wenn der andere Staat für den Bereich schwersten kriminellen Unrechts die Strafbarkeit durch Rechtfertigungsgründe ausschließt, indem er über geschriebene Normen hinaus zu solchem Unrecht auffordert, es begünstigt und so die in der Völkerrechtsgemeinschaft allgemein anerkannten Menschenrechte in schwerwiegender Weise mißachtet. Der strikte Schutz von Vertrauen durch Artikel 103 Abs. 2 GG muß dann zurücktreten. Dem Bürger eines ehemals anderen Staates, der jetzt der Strafgewalt der Bundesrepublik unterliegt, wird die Berufung auf einen solchen Rechtfertigungsgrund verwehrt; im übrigen bleibt das Vertrauen darauf gewährleistet, nach dem Gesetz bestraft zu werden, das für ihn im Zeitpunkt der Tat galt.

2. Die angegriffenen Urteile genügen diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben.

Der BGH hatte seiner Entscheidung im wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde gelegt: Ein Rechtfertigungsgrund sei unbeachtlich, wenn er die vorsätzliche Tötung von Personen deckte, die nichts weiter wollten, als unbewaffnet und ohne Gefährdung allgemein anerkannter Rechtsgüter die innerdeutsche Grenze zu überschreiten. Ein solcher Rechtfertigungsgrund, der einer Durchsetzung des Verbots, die Grenze zu überschreiten, schlechthin Vorrang vor dem Lebensrecht von Menschen gab, sei wegen offensichtlichen, unerträglichen Verstoßes gegen völkerrechtlich geschützte Menschenrechte unwirksam. Der Verstoß wiege so schwer, daß er die allen Völkern gemeinsamen, auf Wert und Würde des Menschen bezogenen Rechtsüberzeugungen verletze. In einem solchen Fall müsse das positive Recht der Gerechtigkeit weichen. Diese Bewertung des BGH entspricht dem GG. Sie kann sich auch auf das Urteil des BVerfG vom 31. Juli 1973 zum Grundlagenvertrag (BVerfGE 36, 1 ff.) stützen. Darin wird festgestellt, daß die Praxis der DDR an der innerdeutschen Grenze unmenschlich und Mauer, Stacheldraht, Todesstreifen und Schießbefehl mit der Übernahme vertraglicher Pflichten durch die DDR unvereinbar sind. Die Bf können nicht erfolgreich einwenden, das Recht auf Leben und Freizügigkeit sei nach den Vorschriften des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte nicht vorbehaltlos gewährleistet; auch demokratische Rechtsstaaten westlicher Prägung ließen den Schußwaffengebrauch zu, insbesondere bei der Verfolgung und Festnahme von Straftätern. Zwar trifft es zu, daß die gesetzlichen Bestimmungen der DDR über den Schußwaffengebrauch an der innerdeutschen Grenze den Vorschriften der Bundesrepublik über die Anwendung unmittelbaren Zwangs im Wortlaut, entsprechen. Nach den Feststellungen des LG Berlin und des BGH war jedoch in der DDR die Gesetzeslage von Befehlen überlagert. Für eine nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebotene Eingrenzung des Schußwaffengebrauchs blieb kein Raum. Angehörigen der Grenztruppen vor Ort war von den Befehlsgebern vermittelt worden, Grenzverletzer seien zu "vernichten", wenn der Grenzübertritt mit anderen Mitteln nicht verhindert werden könne. Diese Unterordnung des Lebensrechts des Einzelnen unter staatliche Interessen war materiell schwerstes Unrecht. Fehl geht weiterhin die Rüge der Bf Albrecht, Keßler und Streletz, sie seien letztlich nach dem Recht der Bundesrepublik wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft verurteilt worden. Nach den -verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden- Feststellungen der Gerichte ist dieses das gegenüber dem anderenfalls anzuwendenden DDR-Recht (Anstiftung zum Mord) das mildere Recht. Der Anwendung eines milderen Rechts als des zur Tatzeit geltenden steht Artikel 103 Abs. 2 GG nicht entgegen.

II.

Auch im übrigen bestehen gegen die Verurteilungen keine verfassungsrechtlichen Bedenken.

1.         Der Senat führt im einzelnen aus, daß die den Entscheidungen zugrundeliegende Beweiswürdigung, die Erwägungen zur Feststellung der strafrechtlichen Schuld sowie zur Strafzumessung eine Verletzung von Verfassungsrecht nicht erkennen lassen.

2.         Auch die Verurteilung des "Mauerschützen" verletzt nicht den sich aus dem GG ergebenden Grundsatz "Keine Strafe ohne Schuld". Die Strafgerichte sind verfassungsrechtlich bedenkenfrei davon ausgegangen, daß der Entschuldigungsgrund des "Handelns auf Befehl" ausgeschlossen sei, weil die Rechtswidrigkeit des Befehls zum Schußwaffengebrauch an der Grenze nach den dem Bf bekannten Umständen offensichtlich war. Zwar haben die Gerichte nicht erörtert, ob sich Bedenken gegen die Erkennbarkeit des Strafrechtsverstoßes aus dem Umstand ergeben, daß die Staatsführung der DDR den Rechtfertigungsgrund mit staatlicher Autorität ausgeweitet und den Soldaten so vermittelt hat. In einem solchen Fall ist es nicht selbstverständlich, daß sich dem durchschnittlichen Soldaten die richtige Grenze strafbaren Verhaltens zweifelsfrei erschließt, und es wäre unter dem Schuldgrundsatz unhaltbar, die Offensichtlichkeit eines solchen Verstoßes für den Soldaten allein mit dem - objektiven - Vorliegen eines schweren Menschenrechtsverstoßes zu begründen; es müßte dann näher dargelegt werden, weshalb der einzelne Soldat angesichts seiner Erziehung, seiner Indoktrination und der sonstigen Umstände in der Lage gewesen sein soll, den Strafrechtsverstoß zweifelsfrei zu erkennen. Die Gerichte haben jedoch dargelegt, die Tötung eines unbewaffneten Flüchtlings durch Dauerfeuer sei unter den festgestellten Umständen ein derart schreckliches und jeder möglichen Rechtfertigung entzogenes Tun gewesen, daß der Verstoß gegen Verhältnismäßigkeit und elementares Tötungsverbot auch für einen indoktrinierten Menschen ohne weiteres einsichtig und damit offensichtlich war. Auch die sonstigen Darlegungen der Strafgerichte ergeben mit noch hinreichender Deutlichkeit aufgrund des Gesamtzusammenhangs der Urteilsgründe und der Bezugnahme auf vorangegangene Urteile, daß dem Schuldprinzip genügt ist.