Bundesverfassungsgericht

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Urteil zur "Gefangenenentlohnung"

Pressemitteilung Nr. 73/1998 vom 1. Juli 1998

Urteil vom 01. Juli 1998
2 BvR 441/90

Der Zweite Senat des BVerfG hat aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 11. März 1998 mit Urteil vom 1. Juli 1998 folgendes entschieden:

  1. Das verfassungsrechtliche Resozialisierungsgebot fordert, Gefangenenarbeit angemessen anzuerkennen. Die derzeit in § 200 Abs. 1 Strafvollzugsgesetz (StVollzG) vorgesehene Vergütung in Höhe von 5% des durchschnittlichen Arbeitsentgelts aller in der gesetzlichen Rentenversicherung Versicherten entspricht diesem Gebot nicht. § 200 Abs. 1 StVollzG ist mit dem GG unvereinbar. Er bleibt jedoch bis zu einer gesetzlichen Neuregelung - längstens bis zum 31. Dezember 2000 - in Kraft.
  2. Die gesetzliche Arbeitspflicht der Gefangenen ist mit dem GG vereinbar. Die Zuweisung einer Pflichtarbeit ist jedoch von Verfassungs wegen an den öffentlich-rechtlichen Verantwortungsbereich der Vollzugsbehörden geknüpft und auf diesen beschränkt.
  3. Es ist ebenfalls mit dem GG vereinbar, Strafgefangene nicht in die gesetzliche Rentenversicherung einzubeziehen.

Im einzelnen:

Konkretes Normenkontrollverfahren (2 BvL 17/94)

§ 200 Abs. 1 StVollzG ist mit dem Resozialisierungsgebot aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 GG unvereinbar. Die Vorschrift bleibt bis zu einer gesetzlichen Regelung, längstens bis zum 31. Dezember 2000, anwendbar. Sofern bis dahin keine Neuregelung in Kraft getreten ist, entscheiden ab dem 1. Januar 2001 die zuständigen Gerichte über die Bemessung des Arbeitsentgelts.

Verfassungsbeschwerde-Verfahren (2 BvR 441/90, 2 BvR 493/90, 2 BvR 618/92 und 2 BvR 212/93)

Die Verfassungsbeschwerden sind nicht begründet. Sie werden zurückgewiesen. Da die Beschwerdeführer aber im Hinblick auf die Verfassungswidrigkeit des § 200 Abs. 1 StVollzG ein berechtigtes Anliegen verfolgt haben, sind ihnen die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Wegen des Sachverhalts und des Wortlauts der einschlägigen Vorschriften wird auf die Pressemitteilung Nr. 15/98 vom 25. Februar 1998 Bezug genommen.

Zur Begründung heißt es u.a.:

I.

Zum verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab

  1. Die Verfassung gebietet, den Strafvollzug auf das Ziel der Resozialisierung der Gefangenen hin auszurichten. Der einzelne Gefangene hat aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG einen grundrechtlichen Anspruch darauf, daß dieser Zielsetzung bei ihn belastenden Maßnahmen genügt wird.

    Die Resozialisierung gebietet nicht nur, den Gefangenen die Fähigkeit und den Willen zur verantwortlichen Lebensführung zu vermitteln. Sie dient auch dem Schutz der Gemeinschaft: Diese hat ein unmittelbar eigenes Interesse daran, daß der Täter nicht wieder rückfällig wird und erneut seine Mitbürger und die Gemeinschaft schädigt.

    Der Gesetzgeber ist verpflichtet, ein wirksames Resozialisierungskonzept zu entwickeln und den Strafvollzug darauf aufzubauen. Ihm steht bei der Verwirklichung des Resozialisierungsgebots ein weiter Gestaltungsraum zu. Er kann unter Verwertung aller ihm zu Gebote stehenden Erkenntnisse zu einer Regelung gelangen, die - auch unter Berücksichtigung von Kostenfolgen - mit dem Rang und der Dringlichkeit anderer Staatsaufgaben in Einklang zu bringen ist.

  2. Arbeit im Strafvollzug ist nur dann ein effektives Resozialisierungsmittel, wenn die geleistete Arbeit angemessene Anerkennung findet. Diese muß geeignet sein, dem Gefangenen den Wert regelmäßiger Arbeit für ein künftiges eigenverantwortetes und straffreies Leben in Gestalt eines für ihn greifbaren Vorteils vor Augen zu führen. Eine solche angemessene Anerkennung kann finanzieller Art sein, aber auch auf andere Art erfolgen. Im Strafvollzug kommen neben oder anstelle eines Lohnes in Geld etwa auch der Aufbau einer sozialversicherungsrechtlichen Anwartschaft oder Hilfen zur Schuldentilgung in Betracht.
  3. Ein gesetzliches Konzept der Resozialisierung durch Pflichtarbeit, die nur oder hauptsächlich finanziell entgolten wird, kann zur verfassungsrechtlich gebotenen Resozialisierung nur dann beitragen, wenn dem Gefangenen durch die Höhe des Entgelts in einem Mindestmaß bewußt gemacht werden kann, daß Erwerbsarbeit zur Bestreitung der Lebensgrundlage sinnvoll ist. Allerdings kann der Gesetzgeber insoweit die typischen Bedingungen des Strafvollzugs, insbesondere auch dessen Marktferne in Rechnung stellen. Auch spielen die Kosten der Gefangenenarbeit für die Unternehmer und die Konkurrenz durch andere Produktionsmöglichkeiten eine Rolle. Deshalb hat der Gesetzgeber hier einen weiten Einschätzungsraum.
  4. Der Gesetzgeber kann Pflichtarbeit auch in der Weise anerkennen, daß er Gefangene in den Schutz des sozialen Sicherungssystems einbezieht. Der Senat führt aus, daß das GG nicht dazu zwingt, diesen Schutz auf Pflichtarbeit im Strafvollzug auszudehnen.
  5. Der Gesetzgeber hat bei der Zuweisung von Pflichtarbeit Art. 12 Abs. 3 GG ("Zwangsarbeit ist nur bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig") zu beachten. Diese Ausnahme vom Verbot der Zwangsarbeit ist allerdings von dem Grundsatz geprägt, daß die Arbeit der Strafgefangenen unter der Verantwortung der Vollzugsbehörden erbracht wird und deren öffentlich-rechtlicher Aufsicht unterliegt. Eine "Verdingung" von Gefangenen, bei der diese - unbeaufsichtigt - zum Zwecke der Arbeitsleistung der Verantwortlichkeit Dritter überlassen werden, entspricht nicht dem herkömmlichen Erscheinungsbild der Pflichtarbeit.

II.

Anwendung des verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstabs auf die vorliegenden Verfahren

Das im StVollzG entwickelte Resozialisierungskonzept, soweit es in Kraft gesetzt ist und die Verpflichtung zur Arbeit sowie ein Entgelt hierfür vorsieht, genügt grundsätzlich verfassungsrechtlichen Anforderungen. Die praktische Handhabung des sogenannten unechten Freigangs (Ziff. 1c) und die Bemessung des Arbeitsentgelts (Ziff. 4) sind jedoch mit dem GG unvereinbar.

  1. a) Wäre das im StVollzG entwickelte Resozialisierungskonzept voll - also einschließlich der vorgesehenen Erhöhung des Arbeitsentgelts und der umfassenden Einbeziehung der Gefangenen in die Sozialversicherung - in Kraft gesetzt worden, hätte der Gesetzgeber dem Resozialisierungsgebot nicht nur in dem gebotenen Mindestmaß entsprochen, sondern dieses in großzügiger Weise umgesetzt.

    Das StVollzG in seiner in Kraft gesetzten Fassung verwirklicht allerdings sein Resozialisierungskonzept nur als Torso. Der Gefangene ist nur in die Unfall- und Arbeitslosenversicherung, nicht aber in die Kranken- und Rentenversicherung einbezogen. Auch das Arbeitsentgelt blieb auf eine Bemessungsgrundlage in Höhe von 5% der Bezugsgröße festgeschrieben. Die Verpflichtung zur Arbeit hat aber damit nicht ihren funktionalen Zusammenhang mit der Resozialisierung verloren. Nach wie vor soll die Verrichtung von Pflichtarbeit mit einem Anspruch auf Arbeitsentgelt verknüpft sein.

    b) Auch die Arbeitspflicht nach § 41 StVollzG hält sich im Rahmen des Art. 12 Abs. 3 GG. Denn sie besteht nur insoweit, als die Verrichtung der Arbeit unter der öffentlich-rechtlichen Verantwortung der Vollzugsbehörden steht. Eine weitergehende Übertragung der Gesamtverantwortung, insbesondere die Unterstellung des Gefangenen unter die ausschließliche Leitungsgewalt eines Privaten, läßt das Gesetz nicht zu.

    c) Diesen Anforderungen kann auch bei einer Beschäftigung von Gefangenen als sogenannten unechten Freigängern (Pflichtarbeit in Betrieben außerhalb der Anstalt) genügt werden.

    Allerdings widerspricht die verschiedenen Bundesländern geläufige Vollzugspraxis, freie Beschäftigungsverhältnisse (§§ 39 Abs. 1, 11 StVollzG - "echter Freigang") nicht zu fördern, sondern prinzipiell nur in seltenen Ausnahmefällen zuzulassen, dem Resozialisierungsgebot. Bietet sich einem zum Freigang geeigneten Gefangenen - auch nach Bemühungen der Anstalt - keine Arbeit in einem freien Beschäftigungsverhältnis, so kann es im Blick auf das Resozialisierungsgebot nicht ausgeschlossen sein, daß die Vollzugsbehörde dem Gefangenen mit dessen Zustimmung eine bestimmte Arbeit in einem privaten Unternehmen außerhalb der Arbeit zuweist. Ein Mindestmaß organisierter öffentlich-rechtlicher Verantwortlichkeit der Anstalt für den Gefangenen muß dann jedoch gewährleistet bleiben.

    Die als verfassungswidrig beanstandete Praxis, wonach Freigängern nur ausnahmsweise ein freies Beschäftigungsverhältnis ermöglicht wird, muß bis spätestens zum 31. Dezember 1998 eingestellt werden. Der Senat hält es für geboten, den Vollzugsbehörden bis dahin Zeit zu lassen, um vermehrt Unternehmer dafür gewinnen zu können, zum Freigang geeigneten Gefangenen ein freies Beschäftigungsverhältnis anzubieten.

  2. Auch § 43 StVollzG, der dem Pflichtarbeit verrichtenden Gefangenen grundsätzlich einen Anspruch auf Entgelt zuweist, entspricht der Verfassung. Der Gesetzgeber konnte, ohne den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) zu verletzen, mit der Bestimmung einer Eckvergütung das Ziel verfolgen, zu große Einkommensunterschiede unter den Gefangenen und deren negative Auswirkungen im Anstaltsleben zu vermeiden. Indem § 43 Abs. 2 StVollzG eine Entgeltstufung zuläßt, ermöglicht das Gesetz auch die Berücksichtigung individueller Verhältnisse und eine sachgerechte Differenzierung des Entgelts.
  3. Der Senat führt aus, daß es verfassungsrechtlich ebenfalls nicht zu beanstanden ist, die Einbeziehung der Strafgefangenen in die gesetzliche Rentenversicherung einem besonderen - noch nicht erlassenen - Bundesgesetz vorzubehalten. Durch die im Gesetz vorgesehene, jedoch nicht in Kraft getretene Regelung sollten die jeweiligen Gefangenen in die sozialen Sicherungssysteme auf einer Bemessungsgrundlage von 90% der sozialversicherungsrechtlichen Bezugsgröße einbezogen werden. Ein solcher sozialversicherungsrechtlicher Schutz für Gefangene ist weder vom verfassungsrechtlichen Resozialisierungsgebot gefordert noch vom Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) geboten. Er müßte sich nach Aussage der in der mündlichen Verhandlung gehörten Sachverständigen des Sozialversicherungsrechts im Gegenteil gerade unter Gleichheitsgesichtspunkten rechtfertigen.
  4. Die Bemessung des Arbeitsentgelts durch § 200 Abs. 1 StVollzG ist hingegen mit dem verfassungsrechtlichen Resozialisierungsgebot unvereinbar. In seiner gegenwärtigen Höhe kann es zur Resozialisierung nicht beitragen, weil der Gefangene durch das ihm tatsächlich zukommende Entgelt nicht im gebotenen Mindestmaß davon überzeugt werden kann, daß Erwerbsarbeit zur Herstellung einer Lebensgrundlage sinnvoll ist.

    a) Die sozialrechtliche Bezugsgröße des Jahres 1997 führt zu einem Arbeitsentgelt von etwa 1,70 DM pro Stunde. Das bringt dem Gefangenen durchschnittlich nicht viel mehr als 200,-- DM im Monat. Dies genügt nicht dem vom Resozialisierungsgebot geforderten Mindestmaß, was im übrigen auch von den Sachverständigen bestätigt worden ist, soweit sie zur Entgelthöhe Stellung genommen haben.

    Neben dem Arbeitsentgelt lassen sich keine wesentlichen weiteren Vorteile feststellen, die dem Gefangenen gerade aufgrund seines Arbeitseinsatzes gewährt würden. Das gilt auch für die Bereitstellung von Einrichtungen und Leistungen der Freizeitgestaltung in der Anstalt. Hierbei erfährt nicht der einzelne Gefangene die Anerkennung der gerade von ihm erbrachten Arbeit. Es handelt sich vielmehr um psychische und soziale Betreuung, die zwar im Sinne des verfassungsrechtlichen Resozialisierungsgebots positiv zu bewerten sein mag, die aber in der einen oder anderen Form allen Gefangenen zuteil wird.

    b) Diese Erwägungen führen den Senat zur Feststellung, daß § 200 Abs. 1 StVollzG mit dem verfassungsrechtlichen Resozialisierungsgebot unvereinbar ist.

    Es mochte zwar verfassungsrechtlich vertretbar gewesen sein, daß der Gesetzgeber den Gefangenen in den Jahren der Einführung des StVollzG (1976) nur ein Arbeitsentgelt in Höhe von 5% der sozialversicherungsrechtlichen Bezugsgröße zugestand, weil die für die Finanzierung zuständigen Länder ihre Einrichtungen organisatorisch anzupassen und im übrigen finanzplanerische Vorkehrungen zu treffen hatten. Die dem Gesetzgeber zuzugestehende Übergangszeit ist aber inzwischen verstrichen.

    Allerdings muß bis zu einer gesetzlichen Neuregelung eine Rechtsgrundlage zur Verfügung stehen. Der Senat ordnet deshalb an, daß § 200 Abs. 1 StVollzG zunächst, längstens bis zum 31. Dezember 2000, anwendbar bleibt. Unbeschadet der Pflicht des Gesetzgebers, umgehend tätig zu werden, geht das Gericht davon aus, daß für die Überarbeitung der gesetzlichen Grundlagen eine gewisse Zeit benötigt wird.

III.

  1. Aus der Feststellung, daß § 200 Abs. 1 StVollzG mit dem GG unvereinbar ist, folgt, daß die Vorlage des Landgerichts Potsdam zulässig und begründet ist.
  2. Da § 200 Abs. 1 StVollzG aber zunächst anwendbar bleibt, sind die Verfassungsbeschwerden unbegründet. Es gibt keine Rechtsgrundlage für eine Nachzahlung von Entgelt und für die Nachentrichtung von Beiträgen zur Rentenversicherung (2 BvR 441/90, 2 BvR 493/90 und 2 BvR 618/92).

    Die Verfassungsbeschwerde 2 BvR 212/93 kann ebenfalls keinen Erfolg haben. Die Zustimmung des Beschwerdeführers zur Arbeit war von Verfassungs wegen nicht gefordert. Seine Arbeitsverweigerung durfte deshalb als Verletzung der Arbeitspflicht gewertet werden. Dies erlaubte die Anordnung von Disziplinarmaßnahmen wegen eines - vom BVerfG nicht mehr nachzuprüfenden - schuldhaften Pflichtverstoßes.

    Im Hinblick auf die Feststellungen zur Verfassungswidrigkeit des § 200 Abs. 1 StVollzG hat der Senat auf der Grundlage des § 34a Abs. 3 BVerfGG ("In den übrigen Fällen kann das BVerfG volle oder teilweise Erstattung der Auslagen anordnen") angeordnet, daß den Beschwerdeführern die notwendigen Auslagen zu erstatten sind.

IV.

Der Berichterstatter, Bundesverfassungsrichter Kruis, hat der Entscheidung eine abweichende Meinung beigefügt. Er stimmt dem Urteil zu, ist jedoch der Auffassung, daß sich bei Pflichtarbeit die Frage nach dem angemessenen Entgelt im Blick auf die Achtung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) losgelöst vom Resozialisierungsgebot der Verfassung und dem Resozialisierungszweck der Arbeit stellt.