Bundesverfassungsgericht

Sie sind hier:

Unzulässige Verfassungsbeschwerde im Zusammenhang mit der Zulassung eines "allgemeinpolitischen Mandats" für Studentenschaften in Nordrhein-Westfalen

Pressemitteilung Nr. 94/1998 vom 27. August 1998

Beschluss vom 11. August 1998, Beschluss vom 11. August 1998
1 BvR 1334/98
1 BvR 1362/98

Die 1. Kammer des Ersten Senats des BVerfG hat zwei Verfassungsbeschwerden (Vb) von Studenten der Universitäten Münster und Siegen nicht zur Entscheidung angenommen. Die Vb richteten sich unmittelbar gegen die im Juli 1997 in Kraft getretene Änderung des Universitätsgesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen (NW). Mit diesem Änderungsgesetz hatte der Landesgesetzgeber den Aufgabenbereich der Studentenschaften, in denen alle Studierenden zwangsweise Mitglied sind, neu definiert. Die Beschwerdeführer (Bf) beanstandeten, daß der Gesetzgeber den Studentenschaften ein "allgemeinpolitisches Mandat" verliehen habe. Das verstoße gegen ihr Grundrecht auf negative Vereinigungsfreiheit.

I.

Die mit der Vb angegriffenen Vorschriften des am 22. Juli 1997 in Kraft getretenen § 71 Abs. 2 und 3 des Universitätsgesetzes NW lauten:

"(2) Die Studierendenschaft verwaltet ihre Angelegenheiten selbst. Sie hat unbeschadet der Zuständigkeit der Hochschule und des Studentenwerks die folgenden Aufgaben:

  1. die Belange ihrer Mitglieder in Hochschule und Gesellschaft wahrzunehmen;
  2. die Interessen ihrer Mitglieder im Rahmen dieses Gesetzes zu vertreten;
  3. an der Erfüllung der Aufgaben der Hochschulen (§ 3), insbesondere durch Stellungnahmen zu hochschul oder wissenschaftspolitischen Fragen, mitzuwirken;
  4. auf der Grundlage der verfassungsmäßigen Ordnung die politische Bildung, das staatsbürgerliche Verantwortungsbewußtsein und die Bereitschaft zur aktiven Toleranz ihrer Mitglieder zu fördern;
  5. fachliche, wirtschaftliche und soziale Belange ihrer Mitglieder wahrzunehmen;
  6. kulturelle Belange ihrer Mitglieder wahrzunehmen;
  7. den Studentensport zu fördern;
  8. überörtliche und internationale Studentenbeziehungen zu pflegen. Die Studierendenschaft und ihre Organe können für die genannten Aufgaben Medien aller Art nutzen und in diesen Medien auch die Diskussion und Veröffentlichung zu allgemeinen gesellschaftspolitischen Fragen ermöglichen. Diskussionen und Veröffentlichungen im Sinne des Satzes 3 sind von Verlautbarungen der Studierendenschaft und ihrer Organe deutlich abzugrenzen. Die Verfasserin oder der Verfasser ist zu jedem Beitrag zu benennen; presserechtliche Verantwortlichkeiten bleiben unberührt
. (3) Die studentischen Vereinigungen an der Hochschule tragen zur politischen Willensbildung bei."

Die Bf sind der Meinung, die Vorschriften berechtigten zur Wahrnehmung eines "allgemeinpolitischen Mandats", das über den legitimierenden Verbandszweck der Studierendenschaft als öffentlichrechtlicher Zwangskörperschaft hinausgehe.

II.

Die 1. Kammer des Ersten Senats hat die Vb nicht zur Entscheidung angenommen, weil sie wegen des Grundsatzes der Subsidiarität unzulässig sind. Die Kammer hat also die angegriffenen Vorschriften inhaltlich nicht auf ihre Verfassungsmäßigkeit geprüft.

Zur Begründung heißt es u.a.:

  1. Der Grundsatz der Subsidiarität gebietet, daß ein Bf vor einer Anrufung des BVerfG alle ihm zur Verfügung stehenden Rechtschutzmöglichkeiten vor den Fachgerichten ausschöpft. Der Grundsatz soll gewährleisten, daß das BVerfG keine weitreichenden Entscheidungen auf einer ungesicherten Tatsachen- und Rechtsgrundlage trifft, sondern erst dann über die Verfassungsmäßigkeit einer Norm entscheidet, wenn anhand eines konkreten Falls feststeht, ob und in welchem Ausmaß ein Bf durch die beanstandete Regelung in seinen Rechten betroffen ist. Eine Ausnahme hiervon gilt nur dann, wenn eine Vb von allgemeiner Bedeutung ist oder wenn dem Bf durch die Verweisung auf den Rechtsweg ein schwerer und unabwendbarer Nachteil entstünde.
  2. Gemessen daran steht der Grundsatz der Subsidiarität der Zulässigkeit der Vb entgegen. Das angegriffene Gesetz veranlaßt die Bf nicht zu unwiderruflichen Entscheidungen oder Dispositionen. Die Vb haben auch nicht allein deshalb allgemeine Bedeutung, weil das Gesetz alle studierenden Hochschulangehörigen in NW betrifft. Es steht nämlich noch nicht fest, ob und ggf. welche Relevanz die Änderung des § 71 Abs. 2 Universitätsgesetz NW für die Arbeit der Organe der Studierendenschaften haben wird. Es bedeutet auch keinen schweren und unabwendbaren Nachteil für die Bf, wenn sich das BVerfG zunächst nicht mit den aufgeworfenen Rechtsfragen befaßt. Die Zurechnung einer Handlung oder Äußerung eines Organs der Studierenden zu den einzelnen Studenten ist, selbst wenn sie ein "allgemeinpolitisches" Thema betrifft, in aller Regel zu gering, als daß von einem schweren Nachteil gesprochen werden kann. Im übrigen sprechen folgende Erwägungen gegen eine Annahme der Vb: Erstens steht es derzeit nicht fest, ob sich die von den Bf behauptete Grundrechtsbeeinträchtigung überhaupt durch die Inanspruchnahme eines "allgemeinpolitischen Mandats" realisiert. Ist dies nicht der Fall, tritt eine grundrechtliche Beschwer für die Bf nicht ein. Zweitens ist es im vorliegenden Fall nicht ausgeschlossen, daß die Verwaltungsgerichte durch eine verfassungskonforme Auslegung der nicht eindeutigen Vorschriften des Universitätsgesetzes NW eine Grundrechtsverletzung der Bf und somit eine Anrufung des BVerfG vermeiden. Drittens ist zu berücksichtigen, daß es der bundesverfassungs-gerichtlichen Entscheidungsfindung dient, wenn ihm nicht nur die abstrakte Rechtsfrage, sondern auch die Beurteilung der Sach- und Rechtslage durch ein für die Materie speziell zuständiges Gericht unterbreitet wird. Das gilt insbesondere für die vielfach schwierige Abgrenzung von "hochschulpolitischen" un d "allgemeinpolitischen" Aktivitäten von Studierendenschaften. Schließlich haben die Bf die Möglichkeit, notfalls in einem einstweiligen Rechtschutzverfahren gegen Äußerungen oder Handlungen allgemeinpolitischer Art ihrer Studentenschaft vorzugehen.