Bundesverfassungsgericht

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Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde zweier minderjähriger Asylbewerberinnen

Pressemitteilung Nr. 123/1998 vom 12. November 1998

Beschluss vom 27. Oktober 1998
2 BvR 2662/95

Die 1. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG hat auf die Verfassungsbeschwerde zweier minderjähriger türkischer Asylbewerberinnen kurdischer Volkszugehörigkeit ein verwaltungsgerichtliches Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung an das Verwaltungsgericht (VG) zurückverwiesen. Die Klage der Beschwerdeführerinnen auf Anerkennung als Asylberechtigte war mit der Begründung als unzulässig abgewiesen worden, die Beschwerdeführerinnen hätten ihren Wohnort aufgegeben und seien unbekannten Aufenthalts; sie hätten also offenbar kein Interesse mehr an einer Sachentscheidung.

I.

Den Asylantrag der 1981 und 1985 geborenen türkischen Staatsangehörigen kurdischer Volkszugehörigkeit lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge im Juli 1993 ab. Auf die Klage der Asylbewerberinnen bestimmte das VG im Juli 1995 Termin zur mündlichen Verhandlung. Zu diesem Termin wurden der zum Vormund bestellte Schwager einer älteren Schwester der Beschwerdeführerinnen sowie deren Prozeßbevollmächtigter geladen. Außerdem ordnete das Gericht das persönliche Erscheinen der 1981 geborenen Beschwerdeführerin an. Zum Termin erschienen lediglich der Bevollmächtigte und der damalige Vormund. Letzterer erklärte u.a., die Beschwerdeführerinnen seien im Juni 1995 zu einer Schwester nach Kiel gezogen, den genauen Aufenthalt kenne er nicht.

Das VG wies daraufhin die Klage als unzulässig ab. Das Verhalten der Beschwerdeführerinnen offenbare, daß sie in der Bundesrepublik Deutschland keinen asylrechtlichen Schutz mehr suchten. Soweit ihr Desinteresse auch auf das Verhalten ihres Vormundes zurückzuführen sei, der sich offenbar um die Anschrift der Beschwerdeführerinnen nicht weiter gekümmert habe, müßten sie sich dies wie eigenes Verhalten zurechnen lassen.

Den Antrag auf Zulassung der Berufung gegen dieses Urteil wies das Oberverwaltungsgericht ab.

Die Beschwerdeführerinnen erhoben Verfassungsbeschwerde und rügten die Verletzung der Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG.

II.

Die 1. Kammer des Zweiten Senats hat den Beschwerdeführerinnen recht gegeben.

Zur Begründung heißt es u.a.:

  1. Vom Wegfall eines Rechtsschutzbedürfnisses kann ein Gericht auch dann ausgehen, wenn das Verhalten eines Verfahrensbeteiligten Anlaß zu der Annahme bietet, daß ihm an einer Sachentscheidung des Gerichts nicht mehr gelegen ist. Eine hierauf gestützte Abweisung eines Rechtsschutzbegehrens mangels Sachbescheidungsinteresses begegnet grundsätzlich keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.

    Unter Berücksichtigung der Anforderungen des Art. 19 Abs. 4 GG ist jedoch folgendes zu beachten: Will ein Gericht an ein Verhalten eines Beteiligten die weitreichende Folge einer Abweisung des Rechtsschutzbegehrens als unzulässig mangels Rechtsschutzinteresses und damit die Verweigerung effektiven Rechtsschutzes in der Sache knüpfen, ohne den Beteiligten vorher auf Zweifel am fortbestehenden Rechtsschutzinteresse hinzuweisen und ihm Gelegenheit zu geben, sie auszuräumen, so müssen konkrete Anhaltspunkte vorliegen, die den sicheren Schluß zulassen, daß den Beteiligten an einer Sachentscheidung des Gerichts in Wahrheit nicht mehr gelegen ist.

  2. Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt das angegriffene Urteil nicht.

    Das VG ist davon ausgegangen, daß die vom früheren Vormund der Beschwerdeführerinnen abgegebene Erklärung zutreffend ist. Aufgrund dieses Sachverhalts bestand kein Anlaß anzunehmen, die Beschwerdeführerinnen seien aus eigenem Entschluß "untergetaucht" und wollten das Verfahren auf Anerkennung als Asylberechtigte nicht mehr betreiben. Die Anschrift des früheren Vormundes, der als ihr gesetzlicher Vertreter das Verfahren für sie zu betreiben hatte, war weiterhin bekannt. Damit war auch die Erreichbarkeit der Beschwerdeführerinnen grundsätzlich gewährleistet; die im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung erst zehn und dreizehn Jahre alten Beschwerdeführerinnen selbst waren nach den gesetzlichen Vorschriften ohnehin nicht zur Vornahme irgendwelcher Verfahrenshandlungen fähig.

    Allenfalls insofern, als es auf eine persönliche Anwesenheit der Beschwerdeführerinnen vor Gericht, etwa für Erklärungen zu ihrem Verfolgungsschicksal, angekommen wäre, war vorübergehend nicht sichergestellt, daß die Beschwerdeführerinnen alsbald benachrichtigt werden konnten. Abgesehen davon, daß fraglich erscheint, ob Angaben Minderjähriger insoweit überhaupt verwertbar sind, liegt es angesichts des hier geltend gemachten familiären Verfolgungsschicksals jedoch fern, daß der im Termin anwesende frühere Vormund zur Aufklärung des Sachverhalts nicht in der Lage gewesen wäre.

    Auch ein möglicher Verstoß gegen die dem Vormund obliegende Pflicht zur Mitteilung geänderter Anschriften rechtfertigt nicht die Annahme des VG, die Beschwerdeführerinnen hätten durch ihr Verhalten zu erkennen gegeben, an einer Sachentscheidung nicht mehr interessiert zu sein. Dasselbe gilt für das Verhalten des damaligen Vormundes. Ungeachtet der Frage, inwieweit ihm überhaupt Versäumnisse vorzuwerfen sind und die Beschwerdeführerinnen sich diese zurechnen lassen müssen, läßt sein Verhalten schon nach dem objektiven Erklärungswert nicht den Schluß auf einen nachträglichen Wegfall des erforderlichen Rechtsschutzinteresses zu.