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Geltung des Investitionsvorrangs für vermögensrechtliche Rückgabeansprüche von Verfolgten des NS-Regimes hier: Erfolglose Verfassungsbeschwerde

Pressemitteilung Nr. 133/1998 vom 1. Dezember 1998

Beschluss vom 21. Oktober 1998
1 BvR 179/94

Die 1. Kammer des Ersten Senats des BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde von Erben jüdischer Aktionäre gegen eine verwaltungsgerichtliche Entscheidung und - mittelbar - gegen § 22 Investitionsvorranggesetz nicht zur Entscheidung angenommen. Das Verwaltungsgericht (VG) hatte im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes entschieden, daß der von den Beschwerdeführern angegriffene Investitionsvorrangbescheid bei umfassender Prüfung der Sach- und Rechtslage rechtmäßig sei. Auch Vermögenswerte, die durch nationalsozialistische Unrechtsmaßnahmen entzogen worden seien, könnten Gegenstand eines Investitionsvorrangverfahrens sein.

I.

  1. Nach dem (in der Ursprungsfassung) im September 1990 in Kraft getretenen Vermögensgesetz (VermG) sind Vermögenswerte, die bestimmten Maßnahmen im Sinne des § 1 VermG (z.B. entschädigungslose Enteignung) unterlagen und in Volkseigentum überführt oder an Dritte veräußert wurden, auf Antrag an die Berechtigten zurückzuübertragen, soweit die Rückübertragung nicht gesetzlich ausgeschlossen ist.

    Das gleichzeitig mit dem VermG in Kraft getretene "Gesetz über besondere Investitionen in der Deutschen Demokratischen Republik" (InVG) schränkte die Rückübertragungsansprüche ein. Es regelte den Vorrang für besondere Investitionszwecke (nur) für Grundstücke und Gebäude, die Gegenstand von Rückübertragungsansprüchen nach dem VermG sind oder sein können. Erst das "Gesetz zur Beseitigung von Hemmnissen bei der Privatisierung von Unternehmen und zur Förderung der Investitionen" (sog. Hemmnisbeseitigungsgesetz) vom März 1991 hat den Investitionsvorrang auf Unternehmen erstreckt; heute ist dies im "Gesetz über den Vorrang für Investitionen bei Rückübertragungsansprüchen nach dem Vermögensgesetz" (Investitionsvorranggesetz - InVorG) vom Juli 1992 geregelt.

  2. Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Geltung des Investitionsvorrangs für Restitutionsansprüche von Verfolgten des NS-Regimes nach § 1 Abs. 6 VermG (Wortlaut s. Anlage).

    Die Beschwerdeführer sind Erben jüdischer Aktionäre, deren Unternehmen 1936 "arisiert" und nach 1949 in einen Volkseigenen Betrieb überführt worden war. Sie meldeten Ansprüche nach dem VermG auf Rückübertragung von Aktien der aus dem Volkseigenen Betrieb hervorgegangenen Aktiengesellschaft an. 1993 erließ die Treuhandanstalt einen Investitionsvorrangbescheid, in dem festgestellt wurde, daß die Veräußerung der Mitgliedschaftsrechte aus Aktien dieser Gesellschaft an zwei Investoren für einen investiven Zweck (Schaffung und Erhaltung von 600 Vollzeitarbeitsplätzen) erfolge. Dagegen erhoben die Beschwerdeführer Klage, über die bisher noch nicht entschieden ist. Ihren Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage lehnte das VG ab.

    Hiergegen erhoben die Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde und rügten vor allem eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 14 Abs. 1 und 3 (Eigentumsgarantie) sowie Art. 3 Abs. 1 GG (allgemeiner Gleichheitssatz).

II.

  1. Die Kammer hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen (§ 93a Abs. 2 BVerfGG). Sie hat weder grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung noch ist sie zur Durchsetzung der als verletzt bezeichneten Verfassungsrechte angezeigt.

    Zur Begründung heißt es u.a.:

  2. Art. 14 GG (Eigentumsgarantie)

    a) Das VG vertritt die Auffassung, Rückübertragungsansprüche auf während der Herrschaft des Nationalsozialismus entzogene Vermögenswerte seien für das Beitrittsgebiet erst durch das VermG geschaffen worden. Dem liegt die Ansicht zugrunde, vor Inkrafttreten dieses Gesetzes hätten keine Rückübertragungsansprüche bestanden, in die das VermG und das InVG hätten eingreifen können.

    Diese Auffassung läßt weder eine grundlegend unrichtige Anschauung von Bedeutung und Umfang der Eigentumsgarantie erkennen noch ist sie willkürlich. Sie stimmt mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und mit Äußerungen im Schrifttum überein.

    b) Art. 14 GG ist auch nicht deshalb verletzt, weil das VG davon ausgegangen ist, daß Ansprüche auf Rückübertragung nach § 1 Abs. 6 VermG durch das InVorG in zulässiger Weise eingeschränkt werden.

    Die Regelungen über den Investitionsvorrang sind solche, durch die im Sinne des Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG in verfassungsrechtlich zulässiger Weise Inhalt und Schranken des Eigentums bestimmt werden.

    Daß der Investitionsvorrang bis zum Inkrafttreten des Hemmnisbeseitigungsgesetzes (s.o. I.1.) zunächst nur für Grundstücke und Gebäude, nicht auch für Unternehmen galt, ist vom Gesetzgeber als ein erhebliches Investitionshindernis angesehen worden. Er erblickte darin die Gefahr, daß die Investitionstätigkeit im Beitrittsgebiet ihre volle Schwungkraft nicht würde entfalten können. Deshalb sollten mit der Neuregelung die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, nicht nur im gesamtwirtschaftlichen Interesse Unternehmen zu erhalten, sondern auch und vor allem Investitionen weiter zu fördern und zu verbreitern.

    Die Ausdehnung der Regelungen über den Investitionsvorrang auf Unternehmen ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Mit dieser Reaktion des Gesetzgebers werden zwar nachträglich Ansprüche auf Unternehmensrestitution dahin geändert, daß sie hinter erfolgreichen Investitionsvorhaben zurückstehen müssen. Doch geschah dies im Rahmen des im Einigungsvertrag von Anfang an vorgegebenen Verhältnisses von Eigentumsrückgabe und Investitionsvorrang, das nicht als ein für allemal feststehend angesehen werden konnte, sondern im Hinblick auf die unübersichtliche Lage im Beitrittsgebiet latent auf Änderung, Anpassung und Umgestaltung angelegt war. Darin findet typischerweise eine auf neue Situationen und Erkenntnisse reagierende Inhalts- und Schrankengesetzgebung ihren Ausdruck.

    Die Ausdehnung des Investitionsvorrangs auf Unternehmen ist zur Erreichung des gesetzgeberischen Ziels geeignet und erforderlich. Ein gleich wirksames, das Eigentumsgrundrecht weniger fühlbar einschränkendes Mittel ist nicht ersichtlich. Die Maßnahme ist auch insoweit verhältnismäßig, als das InVorG zugunsten der Anmelder unternehmensbezogener Rückübertragungsansprüche Sicherungen enthält, die ihre Interessen in ausreichendem Maß wahren: Sie sind im Investitionsvorrangverfahren anzuhören, sie können selbst investive Maßnahmen zusagen und sind mit einem eigenen Investitionsvorhaben im Regelfall bevorzugt zu berücksichtigen. Weiterhin sind Unternehmen auf den Veräußerer zurückzuübertragen und stehen damit zur Erfüllung von Restitutionsansprüchen wieder uneingeschränkt zur Verfügung, wenn der Erwerber die für die ersten zwei Jahre zugesagten Maßnahmen nicht durchführt oder davon wesentlich abweicht. Schließlich können Rückübertragungsberechtigte den Verkaufserlös mindestens in Höhe des Verkehrswertes verlangen, wenn infolge der Veräußerung des Unternehmens dessen Rückübertragung ausscheidet.

    Die Kammer führt aus, daß auch Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes keine andere Beurteilung erfordern.

  3. Art. 3 Abs. 1 GG (allgemeiner Gleichheitssatz)

    Die angegriffene Entscheidung steht auch im Einklang mit dem allgemeinen Gleichheitssatz.

    a) Aus § 22 InVorG (Wortlaut s. Anlage) ergibt sich eine unterschiedliche Behandlung von Personengruppen mit Restitutionsansprüchen. Denn hiernach sind (nur) Grundstücke und Gebäude von der Regelung des Investitionsvorrangs ausgenommen, deren Grundakten einen Vermerk über die Eintragung in die sog. Liste C (vgl. § 22 InVorG) enthalten oder die aus den Grundakten als Synagoge oder jüdischer Friedhof erkennbar sind.

    Die unterschiedliche Behandlung der von dieser Regelung nicht begünstigten Personengruppen ist jedoch verfassungsrechtlich hinreichend gerechtfertigt. Sie erklärt sich im Verhältnis zu den Inhabern und Anmeldern von Restitutionsansprüchen, die nicht die Voraussetzungen des § 1 Abs. 6 VermG erfüllen, aus der besonderen Widmung der Vermögenswerte und dem besonderen Unrechtsgehalt der nach den Erkenntnissen des Gesetzgebers vor allem auf der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 beruhenden Vermögensentziehungen. Nach dem Geheimen Runderlaß des Reichsministers des Innern vom 3. Dezember 1941 waren hiervon insbesondere diejenigen Juden betroffen, die im Zuge der Massendeportationen in den Osten und dort vor allem in die Vernichtungslager des Generalgouvernements verbracht worden waren.

    b) Allerdings schließt die Anknüpfung des Gesetzgebers an den Vermerk über die Eintragung in die Liste C nicht aus, daß Grundstücke und Gebäude, die von § 22 InVorG nicht erfaßt werden, und generell Unternehmen dem Investitionsvorrang auch dann unterliegen, wenn ihre früheren Eigentümer gleichem oder vergleichbarem Unrecht ausgesetzt waren wie die durch diese Vorschrift begünstigten Personen. Auch gegen diese Differenzierung bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken.

    § 22 InVorG will einerseits NS-Verfolgte, denen durch besonders krasses Unrecht Vermögenswerte weggenommen wurden, vom Investitionsvorrang freistellen. Andererseits mußte eine Regelung gefunden werden, die die Rückgabe von Vermögenswerten nach dem VermG und die Durchführung von im Interesse des wirtschaftlichen Aufschwungs Ost unaufschiebbaren Investitionsvorhaben möglichst wenig behinderte.

    Der Gesetzgeber war verfassungsrechtlich nicht gezwungen, bei der Herausnahme jüdischen Vermögens aus den Regelungen des Investitionsvorrangrechts allen Besonderheiten Rechnung zu tragen. Vielmehr hat er bei der Wiedergutmachung von Unrecht, das von einer dem GG nicht verpflichteten Staatsgewalt begangen worden ist, einen besonders weiten Gestaltungsspielraum. Der Gesetzgeber darf insoweit Regelungen erlassen, die wenigstens in ihrer grundsätzlichen Ausgestaltung dem Gerechtigkeitsgebot entsprechen.

    Die Kammer führt aus, daß gemessen daran auch die hier in Rede stehenden Differenzierungen verfassungsrechtlich gerechtfertigt sind. § 22 InVorG enthält eine zulässige, im Hinblick auf verwaltungspraktische Schwierigkeiten unvermeidliche Typisierung und Generalisierung. Eine als erheblich zu qualifizierende Abweichung vom Gleichheitssatz kann darin jedenfalls deshalb nicht gesehen werden, weil den Personen, die sich auf § 22 InVorG nicht berufen können, zumindest der Anspruch auf den Gegenwert des für einen besonderen Investitionszweck verwendeten Vermögensgegenstandes verbleibt.

Anlage zur Pressemitteilung Nr. 133/98 vom 1. Dezember 1998

§ 1 Abs. 6 des VermG

Dieses Gesetz ist entsprechend auf vermögensrechtliche Ansprüche von Bürgern und Vereinigungen anzuwenden, die in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945 aus rassischen, politischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen verfolgt wurden und deshalb ihr Vermögen infolge von Zwangsverkäufen, Enteignungen oder auf andere Weise verloren haben. Zugunsten des Berechtigten wird ein verfolgungsbedingter Vermögensverlust nach Maßgabe des II. Abschnitts der Anordnung BK/O (49) 180 der Alliierten Kommandantur Berlin vom 26. Juli 1949 (VOBl. für Groß-Berlin I S. 221) vermutet.

§ 22 InVorG

Grundstücke und Gebäude nach Liste C

Dieses Gesetz gilt nicht für Grundstücke und Gebäude, deren Grundakten mit einem Vermerk über die Eintragung in die Liste zu Abschnitt C der Gemeinsamen Anweisung der Minister der Finanzen und des Innern der Deutschen Demokratischen Republik vom 11. Oktober 1961 über die Berichtigung der Grundbücher und Liegenschaftskataster für Grundstücke des ehem. Reichs-, Preußen-, Wehrmachts-, Landes-, Kreis- und Gemeindevermögens gekennzeichnet oder die aus dem Grundbuch als Synagoge oder Friedhof einer jüdischen Gemeinde zu erkennen sind.