Bundesverfassungsgericht

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Antrag auf einstweilige Anordnung erfolgreich - Rücknahme einer Zulassung als Anwältin vorläufig ausgesetzt

Pressemitteilung Nr. 138/1998 vom 11. Dezember 1998

Beschluss vom 26. November 1998
1 BvR 2069/98

Zugunsten einer Rechtsanwältin, die früher in der DDR als Mitarbeiterin der Staatsanwaltschaft tätig war, hat die 2. Kammer des Ersten Senats des BVerfG einstimmig eine einstweilige Anordnung erlassen. Vorläufig darf die Juristin ihre Anwaltskanzlei weiterführen, obwohl ihre Zulassung als Anwältin vom Sächsischen Staatsministerium der Justiz zurückgenommen worden war. Bei der Rücknahme der Anwaltszulassung ging die sächsische Justizverwaltung davon aus, daß die Juristin früher in der DDR als Staatsanwältin gegen Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit verstoßen habe und deshalb unwürdig für den Rechtsanwaltsberuf sei. Der Bundesgerichtshof (BGH) schloß sich dieser Auffassung an. Aufgrund der einstweiligen Anordnung des BVerfG darf die Juristin aber jedenfalls noch so lange als Anwältin tätig sein, bis im Rahmen einer Entscheidung über die von ihr erhobene Verfassungsbeschwerde geklärt sein wird, ob die Rücknahme der Anwaltszulassung verfassungsgemäß war.

I.

Rechtslage:

Die sächsische Landesjustizverwaltung stützte die Rücknahme der Anwaltszulassung im konkreten Fall auf § 1 Abs. 2 des Gesetzes zur Prüfung von Rechtsanwaltszulassungen, Notarbestellungen und Berufungen ehrenamtlicher Richter (RNPG) vom 24. Juli 1992. Nach dieser Norm werden Zulassungen zur Anwaltschaft, die vor dem 15. September 1990 in der DDR ausgesprochen wurden, zurückgenommen, wenn sich eine Rechtsanwältin oder ein Rechtsanwalt vor der Zulassung eines Verhaltens schuldig gemacht hat, das sie/ihn unwürdig erscheinen läßt, den Beruf des Rechtsanwalts auszuüben.

II.

Sachverhalt:

Die Beschwerdeführerin gehörte von 1982 bis 1988 der Abteilung Ia beim Staatsanwalt des Bezirks Leipzig an und wirkte dabei nach den Feststellungen in den Ausgangsverfahren - insbesondere zwischen 1983 und 1985 - an 106 Strafverfahren mit, die für die damals Angeklagten mit Freiheitsstrafen bis zu vier Jahren endeten. Es ging in diesen Verfahren um Vorwürfe wie den versuchten ungesetzlichen Grenzübertritt gemäß § 213 StGB/DDR, die Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit gemäß § 214 StGB/DDR, die ungesetzliche Verbindungsaufnahme gemäß § 219 StGB/DDR, landesverräterische Nachrichtenübermittlung und landesverräterische Agententätigkeit gemäß §§ 99, 100 StGB/DDR.

Die Beschwerdeführerin erhielt noch in der DDR am 1. August 1990 die Zulassung als Anwältin. Diese Zulassung nahm das Sächsische Staatsministerium der Justiz 1995 zurück, weil die Juristin im Sinne von § 1 Abs. 2 RNPG gegen Grundsätze der Menschlichkeit und der Rechtsstaatlichkeit verstoßen habe. Dieser Würdigung schlossen sich der Sächsische Anwaltsgerichtshof beim Oberlandesgericht Dresden und der BGH an. Nach Auffassung des BGH war die Beschwerdeführerin mindestens an 21 Strafverfahren mit schwerwiegenden Verletzungen der Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit beteiligt.

III.

Die 2. Kammer des Ersten Senats hat die von der Beschwerdeführerin beantragte einstweilige Anordnung erlassen.

Damit wird die Vollziehung des Beschlusses des BGH bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, jedoch längstens für die Dauer von sechs Monaten, einstweilen ausgesetzt.

In der Begründung heißt es u.a.:

  1. Die Verfassungsbeschwerde ist weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet.

    Die Bestimmung der Anforderungen aus Art. 12 Abs. 1 GG (Berufsfreiheit) im Hinblick auf die Auslegung und Anwendung der Grundsätze von Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit bezüglich einer früheren staatsanwaltschaftlichen Tätigkeit in der DDR bedarf eingehender Prüfung.

  2. Die sodann gebotene Folgenabwägung fällt zugunsten der Beschwerdeführerin aus:

    Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, so entstünden der Beschwerdeführerin durch den Zulassungsverlust erhebliche und kaum wiedergutzumachende Nachteile.

    Die Beschwerdeführerin führt ihre Kanzlei als Einzelanwältin. Die Abwicklung der Kanzlei kann bei den Mandanten berechtigte Zweifel daran wecken, ob die Beschwerdeführerin angesichts des schwebenden Verfahrens noch in der Lage sein wird, neue Mandate selbst zu einem Abschluß zu führen. Mit zunehmendem Zeitablauf drohte der endgültige Verlust der Mandantschaft. Erginge die einstweilige Anordnung, hätte die Verfassungsbeschwerde später aber keinen Erfolg, könnte die Beschwerdeführerin ihre Tätigkeit vorübergehend weiter ausüben. Die Folgen einer solchen zeitlichen Verzögerung der Zulassungsrücknahme fallen weniger ins Gewicht als der zeitweilige Zulassungsverlust, zumal einerseits keine konkreten Anhaltspunkte dafür ersichtlich sind, daß die Beschwerdeführerin derzeit ihre beruflichen Pflichten verletzen oder sich ein sonstiges berufsrechtlich relevantes Fehlverhalten zuschulden kommen lassen könnte, und andererseits auch die Landesjustizverwaltung während des bisherigen Prozesses der Zulassungsrücknahme offensichtlich keine besondere Dringlichkeit beigemessen hat; der Sofortvollzug war nicht angeordnet.