Bundesverfassungsgericht

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Der in den 80-er Jahren gewährte Kinderleistungsausgleich entsprach teilweise nicht verfassungsrechtlichen Anforderungen

Pressemitteilung Nr. 6/1999 vom 19. Januar 1999

Beschluss vom 10. November 1998, Beschluss vom 10. November 1998, Beschluss vom 10. November 1998
2 BvL 42/93
2 BvR 1220/93
2 BvR 1852/97

Der Zweite Senat des BVerfG hat in einem gerichtlichen Vorlageverfahren und zwei Verfassungsbeschwerdeverfahren festgestellt, daß folgende Kinderfreibeträge insoweit mit Art. 3 Abs. 1 (allgemeiner Gleichheitssatz) in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG (Ehe und Familie) unvereinbar waren, als Eltern diese Beträge

  • im Veranlagungszeitraum 1985 für ein Kind nur in Höhe von 2.432,- DM,
  • im Veranlagungszeitraum 1987 für ein Kind nur in Höhe von 2.484,- DM, für zwei Kinder nur in Höhe von 4.968,- DM
  • und im Veranlagungszeitraum 1988 für zwei Kinder ebenfalls nur in Höhe von 4.968 DM

beanspruchen konnten.

I. Gerichtliches Vorlageverfahren (2 BvL 42/93)

1. Das Finanzamt berücksichtigte für das Jahr 1987 für den Kläger des Ausgangsverfahrens auf der Grundlage des § 32 Abs. 6 Einkommenssteuergesetz 1986/1988 (EStG 1986/1988; Wortlaut s. Anlage) einen Kinderfreibetrag für dessen Sohn in Höhe von 2.484,- DM. Der Kläger erhob gegen diesen nach seiner Auffassung zu niedrigen Freibetrag Klage. Der Kinderfreibetrag reiche nicht aus, um das Existenzminimum seines Sohnes steuerfrei zu belassen. Im Revisionsverfahren hat der Bundesfinanzhof (BFH) das Verfahren ausgesetzt, um eine Entscheidung des BVerfG zur Rechtsgültigkeit des § 32 Abs. 6 EStG 1986/1988 einzuholen. Die Vorschrift sei insoweit mit Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG unvereinbar, als danach Eltern mit einem Kind nur einen Kinderfreibetrag in Höhe von insgesamt 2.484,- DM beanspruchen könnten.

2. Der Zweite Senat des BVerfG teilt die Auffassung des BFH.

Zur Begründung heißt es u.a.:

a) Der Staat hat dem Steuerpflichtigen sein Einkommen insoweit steuerfrei zu belassen, als es zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein benötigt wird. Der existenznotwendige Bedarf bildet von Verfassungs wegen die Untergrenze für den Zugriff durch die Einkommensteuer. Art. 6 Abs. 1 GG gebietet darüber hinaus, daß bei der Besteuerung einer Familie das Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder steuerfrei bleiben muß.

Weiterhin gebietet der Gleichheitssatz in seiner Ausprägung als "horizontale Steuergleichheit", Steuerpflichtige bei gleicher Leistungsfähigkeit auch gleich hoch zu besteuern. Eine verminderte Leistungsfähigkeit durch Unterhaltsverpflichtung gegenüber einem Kind muß dementsprechend auch in diesem Vergleich sachgerecht berücksichtigt werden. Die Untergrenze der existenzsichernden Aufwendungen werden durch die Sozialhilfeleistungen konkretisiert, die das im Sozialstaat anerkannte Existenzminimum gewährleisten sollen. Mindestens das, was der Gesetzgeber dem Bedürftigen zur Befriedigung seines existenznotwendigen Bedarfs aus öffentlichen Mitteln zur Verfügung stellt, muß er auch dem Einkommensbezieher von dessen Erwerbsbezügen belassen.

b) Die grundlegenden verfassungsrechtlichen Fragen zu Grund und Höhe des von Verfassungs wegen gebotenen Kinderleistungsausgleichs sind durch die Entscheidungen des BVerfG (BVerfGE 82, 60 und 87, 153; die Pressemitteilungen werden auf Anfrage übersandt) im wesentlichen geklärt. Allerdings besteht in Bezug auf die Methode, wie die vom Gesetzgeber steuerfrei zu belassenden Unterhaltsaufwendungen für das Existenzminimum von Kindern zu berechnen sind, noch ein Klarstellungsbedarf. Dies gilt für folgende Punkte:

aa) Ermittlungstechnik für den Wohnbedarf
Der Wohnbedarf ist nicht nach der Pro-Kopf-Methode sondern nach dem Mehrbedarf zu ermitteln. Bei der Berechnung des Wohnbedarfs ist nach der Technik der Mehrbedarfsrechnung zu verfahren, nach der gegenwärtig auch der Gesetzgeber den einkommensteuerlichen Kinderfreibetrag bemißt. Diese Methode erfaßt in typisierter Form den tatsächlichen zusätzlichen Aufwand für den Wohnbedarf.

bb) Bedarfswerte
Die Bedarfsgrößen zur Feststellung der Existenzminima sind jeweils nur statistisch belegte Mindestbeträge, die nicht unterschritten werden dürfen. Der existenznotwendige Bedarf ist in der Bundesrepublik in den vergangenen 50 Jahren regelmäßig gestiegen, nicht gesunken. Die Anpassung des einkommensteuerlichen Existenzminimums hat mit diesen Steigerungsraten regelmäßig nicht Schritt gehalten. Deswegen wäre allenfalls ein vorsorgliches oder kompensierendes Überschreiten der Mindestwerte geboten, in diesem Rahmen gibt es somit keine Toleranzgrenze.

cc) Grenzsteuersatz
Das BVerfG hat noch nicht rechnerisch präzisiert, mit welchem Steuersatz das tatsächlich gezahlte Kindergeld in einen fiktiven Kinderfreibetrag umzurechnen ist. Insoweit ist der verfassungsrechtliche Grundsatz der horizontalen Steuergerechtigkeit zu beachten, wonach Steuerpflichtige bei gleicher Leistungsfähigkeit auch gleich hoch zu besteuern sind. Eine steuerliche Mehrbelastung von Steuerpflichtigen mit unterhaltsbedürftigen Kindern im Vergleich zu kinderlosen Steuerpflichtigen gleicher Einkommenstufe kann nicht damit gerechtfertigt werden, Steuerpflichtige mit höherem Einkommen könnten eine geminderte steuerliche Entlastung leichter tragen. Diese Begründung ließe, sofern nur das Einkommen des betreffenden Steuerpflichtigen hoch genug ist, jede steuerliche Ungleichbehandlung gegenüber anderen Beziehern von Einkommen in gleicher Höhe zu und setzt letztlich zu Lasten der Kinder das Gebot der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit außer Kraft.

c) Der Senat führt aus, daß bei Einhaltung dieser verfassungsrechtlichen Maßstäbe der existenznotwendige Mindestbedarf eines Kindes im Veranlagungsjahr 1987 4.416,- DM betrug. Demgegenüber ergab sich unter Berücksichtigung - des Kinderfreibetrages (§ 32 Abs. 6 EStG 1986/1988) und - des auf Grundlage des individuellen Grenzsteuersatzes des Klägers umgerechneten Kindergeldes in einen fiktiven Kinderfreibetrag eine gesetzliche Gesamtberücksichtigung des Kinderexistenzminimums von nur 3.847 DM. Dies ist mit der Verfassung nicht vereinbar.

II. Vb-Verfahren

1. 2 BvR 1220/93

Mit derselben Begründung hat der Zweite Senat § 54 Abs. 1 EStG in der Fassung des Steueränderungsgesetzes von 1991 in seiner Anwendung auf den Veranlagungszeitraum 1985 insoweit für mit dem GG unvereinbar erklärt, als danach Eltern mit einem Kind nur einen Kinderfreibetrag von 2.432,- DM beanspruchen konnten. Der existenznotwendige Mindestbedarf für ein Kind im Veranlagungszeitraum 1985 beträgt 3.924 DM. Das Einkommensteuergesetz berücksichtigt den Bedarf des Kindes der Beschwerdeführer jedoch - einschließlich des unter Zugrundelegung ihres individuellen Grenzsteuersatzes in einen Kinderfreibetrag umgerechneten Kindergeldes - nur in Höhe von 3.682 DM und bleibt damit um 242 DM hinter der von Verfassungs wegen erforderlichen Mindestberücksichtigung zurück.

2. 2 BvR 1852 und 1853/97

Auch die Kinderfreibeträge, die Eltern mit zwei Kindern in den Veranlagungszeiträumen 1987 und 1988 gewährt wurden, genügten nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Unter Berücksichtigung der Grenzsteuersätze der Bf in Höhe von 40 % bleibt das gesetzlich anerkannte Existenzminimum für zwei Kinder im Veranlagungszeitraum 1987 hinter dem verfassungsrechtlich gebotenen Mindestbedarf um 264 DM jährlich, im Veranlagungszeitraum 1988 um 576 DM jährlich zurück.

III.

Der nun erneut mit den Verfahren befaßte BFH wird zu prüfen haben, ob er in den jetzt vom BVerfG entschiedenen Fällen und in allen bei ihm anhängigen Parallelverfahren auch ohne gesetzliche Änderung die verfassungsrechtlich veranlaßte Herabsetzung der Steuerschuld beschließen kann. Dann wäre eine gesetzliche Neuregelung mit Wirkung für zurückliegende Veranlagungsjahre und für wenige Fälle erübrigt. Anderenfalls wäre der Gesetzgeber verpflichtet, in den noch nicht bestandskräftig gewordenen Fällen die Benachteiligung der betroffenen Steuerpflichtigen zu beheben. In jedem Fall steht es ihm frei, die verfassungsrechtlich gebotene Änderung durch eine Anhebung des einkommensteuerlichen Kinderfreibetrages, durch eine Anhebung des Kindergeldes oder durch eine anderweitige Ausgleichsregelung vorzunehmen.

Anlage zur Pressemitteilung Nr. 6/99 vom 19. Januar 1999

§ 32 Abs. 6 EStG 1986/1988

Ein Kinderfreibetrag von 1242 Deutsche Mark wird für jedes zu berücksichtigende Kind des Steuerpflichtigen vom Einkommen abgezogen. Bei Ehegatten, die nach den §§ 26, 26b zusammen zur Einkommensteuer veranlagt werden, wird ein Kinderfreibetrag von 2484 Deutsche Mark abgezogen, wenn das Kind zu beiden Ehegatten in einem Kindschaftsverhältnis steht. Ein Kinderfreibetrag von 2484 Deutsche Mark wird auch abgezogen, wenn

  1. der andere Elternteil vor dem Beginn des Kalenderjahrs verstorben ist oder während des ganzen Kalenderjahrs nicht unbeschränkt einkommensteuerpflichtig gewesen ist oder
  2. der Steuerpflichtige allein das Kind angenommen hat oder das Kind nur zu ihm in einem Pflegekindschaftsverhältnis steht.

Abweichend von Satz 1 wird bei einem unbeschränkt einkommensteuerpflichtigen Elternpaar, bei dem die Voraussetzungen des § 26 Abs. 1 Satz 1 nicht vorliegen, auf Antrag eines Elternteils der Kinderfreibetrag des anderen Elternteils auf ihn übertragen, wenn er seiner Unterhaltsverpflichtung gegenüber dem Kind für das Kalenderjahr nachkommt, der andere Elternteil jedoch nicht oder nur zu einem unwesentlichen Teil, oder wenn der andere Elternteil dem Antrag zustimmt; die Zustimmung kann nicht widerrufen werden.

§ 54 EStG in der Fassung des Steueränderungsgesetzes 1991

(1) § 32 Abs. 8 des Einkommensteuergesetzes in der Fassung des Haushaltsbegleitgesetzes 1983 vom 20. Dezember 1982 (BGBl. I S. 1857) ist für die Veranlagungszeiträume 1983 bis 1985 in der folgenden Fassung anzuwenden, wenn die betreffende Steuerfestsetzung am 28. Juni 1991 noch nicht bestandskräftig ist:

"(8) Bei Kindern des Steuerpflichtigen im Sinne der Absätze 4 bis 7 wird ein Kinderfreibetrag von 2.432 Deutsche Mark für das erste Kind, von 1.832 Deutsche Mark für das zweite Kind und von 432 Deutsche Mark für jedes weitere Kind gewährt. Bei Kindern des Steuerpflichtigen im Sinne des Absatzes 4 Satz 1, der Absätze 5 bis 7, die nach Absatz 4 Satz 2 und 3 dem anderen Elternteil zugeordnet werden und denen gegenüber der Steuerpflichtige seiner Unterhaltsverpflichtung für den Veranlagungszeitraum nachkommt, wird ein Kinderfreibetrag von 1.216 Deutsche Mark für das erste Kind, von 916 Deutsche Mark für das zweite Kind und von 216 Deutsche Mark für jedes weitere Kind gewährt. Die Reihenfolge der Kinder richtet sich nach ihrem Alter. Sind anstelle von Kindergeld andere Leistungen für Kinder im Sinne des § 8 Abs. 1 Satz 1 des Bundeskindergeldgesetzes von mindestens 120 Deutsche Mark monatlich zu zahlen, so wird auch für jedes erste und zweite Kind im Sinne des Satzes 1 ein Kinderfreibetrag von 432 Deutsche Mark und für jedes erste und zweite Kind im Sinne des Satzes 2 ein Kinderfreibetrag von 216 Deutsche Mark gewährt. Werden Ehegatten nach den §§ 26, 26a getrennt veranlagt, so erhält jeder Ehegatte den Kinderfreibetrag zur Hälfte, soweit nicht ein Kinderfreibetrag nur einem der Ehegatten zu gewähren ist."