Bundesverfassungsgericht

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Die Besoldung von Beamten und Richtern mit mehr als zwei Kindern war im Zeitraum von 1988 bis 1996 zu gering

Pressemitteilung Nr. 13/1999 vom 5. Februar 1999

Beschluss vom 24. November 1998
2 BvL 26/91

Der Zweite Senat des BVerfG hat auf mehrere gerichtliche Vorlagen folgendes entschieden:

1. Die Besoldung von verheirateten Beamten und Richtern mit mehr als zwei Kindern im Zeitraum von 1988 bis 1996 verstieß insoweit gegen Art. 33 Abs. 5 GG ("Das Recht des öffentlichen Dienstes ist unter Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums zu regeln"), als die kinderbezogenen Gehaltsbestandteile bezüglich folgender Besoldungsgruppen zu gering waren:

  • Besoldungsgruppe B 2 der Besoldungsordnung (BBesO) in den Jahren 1988 und 1989;
  • Besoldungsgruppen A 4 bis A 13 (ohne A 5 und A 10), B 2 sowie R 1 BBesO im Jahr 1990;
  • Besoldungsgruppen A 4 bis A 13 (ohne A 10) sowie R 1 BBesO im Jahr 1991;
  • Besoldungsgruppen A 4 bis A 14 (ohne A 10) sowie R 1 BBesO im Jahr 1992;
  • Besoldungsgruppen A 4 bis A 14 (ohne A 10) sowie R 1 BBesO im Jahr 1993;
  • Besoldungsgruppen A 4 bis A 15 (ohne A 10) sowie R 1 BBesO im Jahr 1994;
  • Besoldungsgruppen A 4 bis A 15 (ohne A 10) sowie R 1 und R 2 BBesO im Jahr 1995;
  • Besoldungsgruppen A 4 bis A 13 (ohne A 10) sowie R 2 BBesO im Jahr 1996.

Die entsprechenden Vorschriften der Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetze (BBVAnpG) von 1987, 1988, 1991 bis 1995 waren mit dem GG unvereinbar.

2. Der Gesetzgeber hat die als verfassungswidrig beanstandete Rechtslage bis zum 31. Dezember 1999 mit der Verfassung in Übereinstimmung zu bringen.

Kommt der Gesetzgeber dem nicht nach, so gilt mit Wirkung vom 1. Januar 2000:

Besoldungsempfänger haben für das dritte und jedes weitere unterhaltsberechtigte Kind Anspruch auf familienbezogene Gehaltsbestandteile in Höhe von 115% des durchschnittlichen sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs eines Kindes.

Eine rückwirkende Behebung des Verfassungsverstoßes ist lediglich hinsichtlich der Kläger der Ausgangsverfahren sowie solcher Kläger angeordnet, über deren Anspruch nach nicht abschließend entschieden ist.

I.

1. Das BVerfG - Zweiter Senat - hat bereits in seinen Beschlüssen vom 30. März 1977 (BVerfGE 44, 249; die Pressemitteilung vom 19. Juli 1977 wird auf Anfrage übersandt) und 22. März 1990 (BVerfGE 81, 363; die Pressemitteilung vom 7. Juni 1990 ist in der Anlage 1 beigefügt) die Besoldung von Beamten als zu gering beanstandet, soweit sie Familien mit mehr als zwei Kindern betrifft.

Erst mit dem Reformgesetz von 1997 zog der Gesetzgeber für die Zeit von 1977 bis Ende 1989 insoweit Folgerungen aus dem Beschluß des BVerfG vom 22. März 1990 als Kläger und Widerspruchsführer, die ihren Anspruch innerhalb des genannten Zeitraums geltend gemacht hatten, für das dritte und jedes weitere im Ortszuschlag zu berücksichtigende Kind einen monatlichen Erhöhungsbetrag von 50,-- DM erhielten.

II.

Die Kläger der insgesamt 11 Ausgangsverfahren sind Beamte und Richter mit Dienstbezügen der oben angegebenen Besoldungsgruppen. Sie sind verheiratet und haben mehr als zwei Kinder. Ihre Besoldung, die Kindergeld und kinderbezogene Ortszuschläge umfaßte, hielten sie im Hinblick auf die Kinderzahl für verfassungswidrig. Nachdem Anträge auf Erhöhung der Bezüge im Verwaltungsverfahren keinen Erfolg hatten, erhoben die Kläger der Ausgangsverfahren Klage zu den Verwaltungsgerichten. Diese setzten die bei ihnen anhängigen Verfahren gemäß Art. 100 Abs. 1 GG aus und legten dem BVerfG die näher bezeichneten Bestimmungen der BBVAnpG zur Prüfung auf ihre Verfassungsgemäßheit vor. Die vorlegenden Gerichte halten die genannten Bestimmungen für verfassungswidrig, soweit die kinderbezogenen Gehaltsbestandteile für verheiratete Besoldungsempfänger mit mehr als zwei Kindern festgesetzt sind. Hierzu nehmen sie im wesentlichen auf die Entscheidungen des BVerfG von 1977 und 1990 Bezug. Ein Vergleich der Differenzbeträge zwischen den Nettobezügen verheirateter Beamter derselben Besoldungsgruppe mit zwei und mit drei (und mehr) Kindern zeige, daß den Klägern ein angemessener Unterhalt ihrer Kinder nicht möglich gewesen sei, ohne dafür auf die familienneutralen Bestandteile des Gehalts zurückzugreifen.

III.

Der Zweite Senat des BVerfG teilt die Auffassung der Verwaltungsgerichte. Die vorgelegten Vorschriften der BBVAnpG waren mit Art. 33 Abs. 5 GG nicht vereinbar, soweit der Gesetzgeber es unterlassen hat, die kinderbezogenen Gehaltsbestandteile bei verheirateten Beamten und Richtern der betreffenden Besoldungsgruppen mit mehr als zwei Kindern in einer dem Grundsatz der amtsangemessenen Alimentation entsprechenden Höhe festzusetzen.

Dies gilt auch unter Berücksichtigung der durch das Reformgesetz von 1997 erfolgten Erhöhung des Kindergeldes um 50,-- DM (s.o. Ziffer I).

Zur Begründung heißt es u.a.:

1. Maßstäbe

An den veMaßstäberfassungsrechtlichen Maßstäben der Beschlüsse von 1977 und 1990 wird festgehalten.

a) Das Alimentationsprinzip gehört zu den hergebrachten und vom Gesetzgeber zu beachtenden Grundsätzen des Berufsbeamtentums im Sinne des Art. 33 Abs. 5 GG. Der Staat hat danach auch die Pflicht, die dem Beamten durch seine Familie entstehenden Unterhaltspflichten realitätsgerecht zu berücksichtigen. Bei der Beurteilung und Regelung dessen, was eine amtsangemessene Besoldung ausmacht, kann die Zahl der Kinder eines Beamten deshalb nicht ohne Bedeutung sein.

b) Der Gesetzgeber überschreitet seinen Gestaltungsspielraum, wenn er dem Beamten - wie vorliegend - zumutet, für den Unterhalt seines dritten und weiterer Kinder auf die familienneutralen Bestandteile seines Gehalts zurückzugreifen, um den Bedarf seiner Kinder zu decken. Die damit verbundene, mit wachsender Kinderzahl fortschreitende Auszehrung der familienneutralen Gehaltsbestandteile ist nicht hinnehmbar, weil so der Beamte mit mehreren Kindern den ihm zukommenden Lebenszuschnitt nicht oder nur zu Lasten seiner Familie erreichen kann.

c) Bei der Bemessung des zusätzlichen Bedarfs, der für das dritte und die weiteren Kinder des Beamten entsteht, kann der Gesetzgeber von denjenigen Regelsätzen für den Kindesunterhalt ausgehen, die die Rechtsordnung zur Verfügung stellt. Allerdings sind diese Sätze auf die Befriedigung unterschiedlicher Bedürfnisse hin ausgerichtet. Ihre ungleiche Aussagekraft für die Höhe des dem Beamten von seinem Dienstherrn geschuldeten amtsangemessenen Unterhalts hat der Gesetzgeber in Rechnung zu stellen. So sind etwa Bedarfssätze, die an dem äußersten Mindestbedarf eines Kindes ausgerichtet sind, also insbesondere die Sozialhilfesätze, staatliche Hilfen zur Erhaltung eines Mindestmaßes sozialer Sicherung. Die Alimentation des Beamten und seiner Familie ist demgegenüber etwas qualitativ anderes. Diesen Unterschied muß die Bemessung der kinderbezogenen Bestandteile des Beamtengehalts deutlich werden lassen.

2. Berechnung der angemessenen Besoldung

Wie das BVerfG bereits in seiner Entscheidung von 1990 ausgeführt hat, ist bei der Frage der Angemessenheit der Besoldung für die kinderbezogenen Gehaltsbestandteile von einem Betrag auszugehen, der 15% über dem sozialhilferechtlichen Gesamtbedarf für ein Kind liegt.

Diesem "15%-Betrag", der den von Verfassungs wegen gebotenen Unterschied zwischen der Alimentation und der Deckung eines äußersten Mindestbedarfs derzeit deutlich werden läßt, wird der durchschnittliche Nettomehrbetrag gegenübergestellt, den der Beamte für sein drittes und jedes weitere Kind erhält.

3. Vergleichberechnungen

Der Senat legt sodann in Vergleichsberechnungen dar, daß die Besoldung verheirateter Beamter mit mehr als zwei unterhaltsberechtigten Kindern in den die Vorlageverfahren betreffenden Besoldungsgruppen in bezug auf das dritte und jedes weitere Kind den verfassungsgebotenen Mindestabstand von 15% zur Sozialhilfe nicht eingehalten hat. Es wurde nicht einmal der sozialhilferechtliche Gesamtbedarf für ein Kind durch die bei steigender Kinderzahl gewährten Nettomehrbeträge ausgeglichen.

Hinsichtlich der Höhe der Differenz zwischen dem tatsächlich gewährten Nettomehrbetrag pro drittem bzw. viertem Kind und dem Sozialhilfebetrag zzgl. 15% sind die Vergleichsberechnungen für die Jahre 1995 und 1996 in der Anlage 2 beigefügt.

4. Folgen der Entscheidung

a) Der Gesetzgeber ist verpflichtet, die in dieser Entscheidung als verfassungswidrig beanstandete Rechtslage mit der Verfassung in Übereinstimmung zu bringen. Dabei steht es ihm frei, das von der Verfassung vorgegebene Ziel durch eine entsprechende Bemessung der Bruttobezüge zu erreichen, die Beamten an einem allgemein gewährten Kindergeld teilhaben zu lassen, steuerrechtlich die durch den Kindesunterhalt verminderte Leistungsfähigkeit auszugleichen (vgl. hierzu auch den Beschluß des BVerfG - Zweiter Senat - vom 10. November 1998 - 2 BvL 42/93) oder diese Möglichkeiten miteinander zu verbinden. Eine allgemeine rückwirkende Behebung des Verfassungsverstoßes ist mit Blick auf die bereits im Beschluß von 1990 näher erläuterten Besonderheiten des Beamtenverhältnisses nicht geboten. Eine rückwirkende Behebung ist jedoch - jeweils soweit der Anspruch auf amtsangemessene Alimentation zeitnah gerichtlich geltend gemacht worden ist - sowohl hinsichtlich der Kläger der Ausgangsverfahren als auch solcher Kläger, über deren Anspruch noch nicht abschließend entschieden worden ist, erforderlich. Eine später eintretende Rechtshängigkeit ist unschädlich, wenn die Klage wegen der für ein erforderliches Vorverfahren benötigten Zeit nicht rechtzeitig erhoben werden konnte.

b) Erfüllt der Gesetzgeber seine durch diese Entscheidung erneut festgestellte Verpflichtung nicht bis zum 31. Dezember 1999, so sind die Dienstherren verpflichtet, ab 1. Januar 2000 für das dritte und jedes weitere unterhaltsberechtigte Kind familienbezogene Gehaltsbestandteile in Höhe von 115% des durchschnittlichen sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs eines Kindes zu gewähren. Die Fachgerichte sind befugt, familienbezogene Gehaltsbestandteile nach diesem Maßstab zuzusprechen.

Anlage 1 zur Pressemitteilung Nr. 13/99 vom 5. Februar 1999

Verlautbarung der Pressestelle des Bundesverfassungsgerichts Nr. 20/90

Auf Vorlage des Bundesverwaltungsgerichts hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat - durch Beschluß vom 22. März 1990 Vorschriften des Siebenten Bundesbesoldungserhöhungsgesetzes vom 20. März 1979 für mit Art. 33 Abs. 5 des Grundgesetzes unvereinbar erklärt, soweit es der Gesetzgeber unterlassen hat, die kinderbezogenen Gehaltsbestandteile bei verheirateten Beamten der Besoldungsgruppe A 11 mit mehr als zwei Kindern vom 1. Januar 1977 an in einer dem Grundsatz der angemessenen Alimentation entsprechenden Höhe festzusetzen. Mit dem genannten Gesetz wollte der Gesetzgeber den Vorgaben einer früheren Entscheidung zum gleichen Thema, des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 30. März 1977 (BVerfGE 44, 249), Rechnung tragen.

Dem Vorlagebeschluß lag die Klage eines Steueramtsmanns mit fünf Kindern zugrunde, mit der er die Feststellung begehrte, daß seine Besoldung im Blick auf die Zahl seiner Kinder unangemessen sei.

Der Beschluß vom 22. März 1990 bestätigt die bereits im Jahre 1977 getroffenen und in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wiederholt bekräftigten Feststellungen, nach denen der Dienstherr verpflichtet ist, dem Beamten und seiner Familie amtsangemessenen Unterhalt zu leisten, die Amtsangemessenheit der Bezüge nach dem Nettoeinkommen zu beurteilen, und der Dienstherr verfassungsrechtlich nicht gehindert ist, die Gewährung des allgemeinen Kindergeldes auch an Beamte auf deren Bezüge anrechenbar zu stellen. Unter Bezugnahme auf die verfassungsrechtliche Gewährleistung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums in Art. 33 Abs. 5 GG, aber auch auf Art. 6 GG, der ganz allgemein die Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stellt, sowie auf das Sozialstaatsprinzip der Verfassung wird der Bundesgesetzgeber für verpflichtet erklärt, dafür Sorge zu tragen, daß der Beamte mit mehreren Kindern neben den Grundbedürfnissen seiner Familie das Minimum an "Lebenskomfort" befriedigen kann, das sich unter den wirtschaftlichen Bedingungen der jeweiligen Gegenwart als angemessen herausgebildet hat. Allerdings werde der Beamte dies bei zunehmender Vergrößerung seiner Familie nur auf bescheidenere Art und Weise verwirklichen können.

Das Beamtengehalt sei in seinen familienneutralen Bestandteilen von vornherein grundsätzlich so bemessen, daß - vor allem im Blick auf die Maßgeblichkeit der Höhe des Nettoeinkommens - überwiegend davon eine bis zu vierköpfige Familie amtsangemessen unterhalten werden könne. Daraus folge indes daß der bei größerer Kinderzahl entstehende Mehrbedarf durch zusätzliche Leistungen gedeckt werden müsse, da nur auf diese Weise die Amtsangemessenheit des Familienunterhalts zu gewährleisten sei. Bei der Bemessung dieses zusätzlichen Bedarfs könne der Gesetzgeber von denjenigen Regelsätzen für den Kindesunterhalt ausgehen, die die Rechtsordnung zur Verfügung stellt. Ihre Aussagekraft sei allerdings ungleich, was es dem Gesetzgeber verwehre, sich mit der Bildung eines Durchschnittswertes aus diesen Sätzen zu begnügen und diesen als den den verfassungsrechtlichen Anforderungen Rechnung tragenden Bedarfssatz für den Kindesunterhalt anzusehen.

Die den Gegenstand der Vorlage bildende Regelung werde diesem Maßstab nicht gerecht Die vom Gesetz festgelegten familienbezogenen Gehaltsbestandteile blieben vom dritten Kind an hinter den verfassungsrechtlichen Anforderungen zurück, auch wenn damit eine gewisse Verbesserung gegenüber der im Beschluß vom 30. März 1977 für verfassungswidrig erklärten Rechtslage erreicht worden sei.

Der Beschluß verpflichtet den Gesetzgeber indessen nicht, die festgestellten Mängel des nach 1977 geltenden Besoldungsrechts generell rückwirkend zu beheben. Die Alimentation des Beamten durch seinen Dienstherrn sei der Sache nach die Befriedigung eines gegenwärtigen Bedarfs. Der Beamte könne nicht erwarten, daß er aus Anlaß einer verfassungsrechtlich gebotenen Besoldungskorrektur gewissermaßen ohne eigenes Zutun nachträglich in den Genuß der Befriedigung eines womöglich jahrelang zurückliegenden Unterhaltsbedarfs komme, den er selbst gegenüber seinem Dienstherrn zeitnah nicht geltend gemacht habe. Eine sich auf alle betroffenen Beamten erstreckende Korrektur der für verfassungswidrig erklärten Regelung sei nur für den Zeitraum gefordert, der mit dem Haushaltsjahr beginne, in dem durch die verfassungsgerichtliche Entscheidung die Verfassungswidrigkeit festgestellt worden sei. Für davorliegende Zeiträume könne sich die Korrektur dagegen auf diejenigen Beamten beschränken, welche den ihnen von Verfassungs wegen zustehenden Anspruch auf amtsangemessene Alimentation zeitnah, also während des jeweils laufenden Haushaltsjahres, gerichtlich geltend gemacht hätten, ohne daß über ihren Anspruch schon abschließend entschieden worden sei.

Karlsruhe, den 7. Juni 1990
Beschluß vom 22. März 1990 - 2 BvL 1/86

Anlage 2 zur Pressemitteilung Nr. 13/99 vom 5. Februar 1999

Anlage 2 zur Pressemitteilung Nr. 13/99 vom 5. Februar 1999