Bundesverfassungsgericht

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Keine einstweilige Anordnung zugunsten von ntv

Pressemitteilung Nr. 46/1999 vom 19. April 1999

Beschluss vom 16. April 1999
1 BvR 622/99

Die 1. Kammer des Ersten Senats des BVerfG hat den von ntv gestellten Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung (e.A.) zurückgewiesen. Der Fernsehsender wollte mit dem Antrag erreichen, die für den 21. April 1999 vor dem Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) vorgesehene mündliche Verhandlung über die Zulässigkeit der Anbringung von Kruzifixen in Bayerischen Schulen ganz oder hilfsweise teilweise übertragen zu können.

Dies hatte der Senatsvorsitzende des BVerwG abgelehnt. Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 169 Satz 2 GVG seien Fernsehaufnahmen während der mündlichen Verhandlung verboten.

Die 1. Kammer des Ersten Senats hat den Antrag zurückgewiesen. Über die Verfassungsbeschwerde (Vb) ist noch nicht entschieden.

Zur Begründung heißt es u.a.:

Die im Rahmen des beantragten vorläufigen Rechtsschutzes vom BVerfG vorzunehmende Folgenbeurteilung (§ 32 BVerfGG) fällt zu Lasten von ntv aus.

1. Erginge die e.A. nicht, wögen die grundrechtliche Einbuße bei ntv und das Informationsdefizit der Öffentlichkeit nicht besonders schwer. Zwar dürfte die Annahme, daß an der "Kruzifix-Problematik" immer noch ein nicht unerhebliches öffentliches Interesse bestehe, zutreffen. Andererseits kommt der anstehenden Verhandlung vor dem BVerwG nicht die Bedeutung zu, wie sie die Strafverhandlung im "Politbüro-Prozeß" (Verfahren gegen den Beschuldigten Krenz u.a.) hatte. Auch insoweit hatte ntv gegen die Versagung von Fernsehaufnahmen erfolglos eine e.A. beantragt (Az. 1 BvR 2623/95).

Ein "schwerer Nachteil" im Sinne des § 32 Abs. 1 BVerfGG läßt sich gerade noch bejahen, soweit es um den Hauptantrag von ntv, also die begehrte vollständige Übertragung der mündlichen Verhandlung vor dem BVerwG, geht. Insoweit ist zu berücksichtigen, daß die Beeinträchtigung der Rundfunkfreiheit und der Information der Öffentlichkeit wegen der Einmaligkeit der Verhandlungssituation nicht zu kompensieren oder gar zu beseitigen wäre, wenn die Vb später Erfolg haben sollte. Soweit ntv hingegen beantragt, nur einzelne Verhandlungsabschnitte zu übertragen, läßt sich ein "schwerer Nachteil" nicht erkennen.

2. Erginge die e.A., wären vor allem Beeinträchtigungen des Persönlichkeitsschutzes der Verfahrensbeteiligten sowie der Rechtsfindung im Verfahren zu erwarten.

Auch im Verwaltungsprozeß sind Persönlichkeitsbelange der Verfahrensbeteiligten zu schützen. Jedenfalls eine der Parteien ist häufig eine natürliche Person, und auch die Interessen von öffentlichen Körperschaften werden von natürlichen Personen vertreten, deren Persönlichkeitsrechte zu berücksichtigen sind. Schließlich sind die Persönlichkeitsbelange aller anderen zu beachten. Daß auch vor dem BVerwG Verhandlungen stattfinden, die einen erheblichen Persönlichkeitsbezug aufweisen können, zeigt gerade das "Kruzifix-Verfahren", in dem nicht zuletzt religiöse Überzeugungen, also ein Belang mit besonders intensivem Persönlichkeitsbezug, bei der rechtlichen Argumentation eine Rolle spielen.

Des weiteren ist nicht auszuschließen, daß Fernsehaufnahmen während der Verhandlung die Rechtsfindung beeinträchtigen. Sie können zu Störungen der Unbefangenheit aller Beteiligten und zu einer Anpassung an die durch die Ton- und Filmaufzeichnungen veränderten Bedingungen führen, die über die Beeinträchtigungen durch die unmittelbare Öffentlichkeit hinausgehen und als unerwünschte Nebeneffekte die vom Öffentlichkeitsgrundsatz angestrebte Verhaltenssteuerung überlagern.

3. Wägt man die Folgen ab, wiegen die Nachteile, die ntv im Fall der Ablehnung einer e.A. drohen, weniger schwer als die Nachteile im Fall eines Erlasses.

Dabei ist zu berücksichtigen, daß die angegriffene Verfügung der Gesetzeslage und der seit Inkrafttreten des GVG einheitlich bestehenden Praxis entspricht. Die Einfügung des § 17 a in das BVerfGG, wonach im BVerfG die Übertragung von Urteilsverkündungen grundsätzlich gestattet ist, hat daran nichts geändert. Bei einer Ablehnung der Anordnung bliebe somit der bisherige Zustand beibehalten. Die Rechtsstellung von ntv würde nicht über das im Gesetz vorgesehene Maß hinaus beeinträchtigt. Das Gewicht der Nachteile wird darüber hinaus dadurch gemindert, daß vor Beginn und nach Ende sowie in den Pausen der mündlichen Verhandlung vor dem BVerwG das Fotografieren und Filmen erlaubt ist.

Demgegenüber fallen die Nachteile im Hinblick auf den Persönlichkeitsschutz der Verfahrensbeteiligten sowie im Hinblick auf Rechtsfindung im Verfahren entscheidend ins Gewicht. Erhebliche Bedeutung kommt namentlich dem Persönlichkeitsschutz der Kläger zu, deren religiöse Befindlichkeit den Anlaß zu dem Verfahren gegeben hat. Der Einwand, die Beteiligten seien ohnehin der Öffentlichkeit ausgesetzt, greift demgegenüber nicht durch, weil sich die durch das im Sitzungssaal anwesende Publikum hergestellte Öffentlichkeit von der durch das Fernsehen hergestellten "Medienöffentlichkeit" erheblich unterscheidet.