Bundesverfassungsgericht

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Das Risiko der Beförderung fristwahrender Schriftsätze darf nicht einseitig auf den Bürger abgewälzt werden

Pressemitteilung Nr. 97/1999 vom 14. September 1999

Beschluss vom 23. August 1999
1 BvR 1138/97

Die 2. Kammer des Ersten Senats des BVerfG hat in einem Verfassungsbeschwerde (Vb)-Verfahren einstimmig entschieden, daß auch bei der Inanspruchnahme von Kurierdiensten das Risiko des rechtzeitigen Zugangs eines fristwahrenden Schriftsatzes nicht einseitig auf den rechtsuchenden Bürger abgewälzt werden darf. Diesem Grundsatz wird die mit der Vb angegriffene Entscheidung des Landesarbeitsgerichts (LArbG) nicht gerecht. Die Kammer hat deshalb diese Entscheidung aufgehoben und zur erneuten Entscheidung an das LArbG zurückverwiesen.

I.

Bei dem Verfahren ging es um die Frage, ob dem Beschwerdeführer (Bf) bzw. seinem Prozeßbevollmächtigten ein Verschulden daran traf, daß die Berufung gegen eine abgewiesene Kündigungsschutzklage nicht fristgemäß beim Berufungsgericht (LArbG) eintraf. Der Schriftsatz war nach Angaben des Bf 11 Tage vor Fristablauf beim Kurierdienst des Anwaltvereins aufgegeben worden, der das betreffende LArbG zweimal wöchentlich anfährt. Der Schriftsatz traf jedoch erst drei Tage nach Ablauf der Berufungsfrist im LArbG ein. Die Verspätung war offenbar auf eine irrtümliche Ablieferung der korrekt adressierten Berufungsschrift beim Oberlandesgericht statt beim LArbG zurückzuführen. Den Antrag des Bf auf "Wiedereinsetzung in den vorigen Stand" wies das LArbG zurück.

II.

Die 2. Kammer des Ersten Senats hat die ablehnende Entscheidung des Antrags auf Wiedereinsetzung aufgehoben.

Zur Begründung heißt es u.a.:

Die Entscheidung verletzt den Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip).

1. Die Gerichte dürfen im Wiedereinsetzungsverfahren die Anforderungen an das, was der Betroffene veranlaßt haben muß, um Wiedereinsetzung zu erlangen, nicht überspannen. So hat es das BVerfG bereits in der Vergangenheit als nicht zulässig angesehen, dem Bürger Verzögerungen der Briefbeförderung oder Zustellung durch die Deutsche Bundespost als Verschulden anzurechnen. In der Verantwortung des Absenders liegt es nur, das zu befördernde Schriftstück so rechtzeitig zur Post zu geben, daß es nach den organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen der Post bei regelmäßigem Betriebsablauf den Empfänger fristgemäß erreicht.

2. Diesen Anforderungen wird die angegriffene Entscheidung nicht gerecht. Sie überspannt die vom Bf zu erfüllende Darlegungslast hinsichtlich der Inanspruchnahme des Kurierdienstes und wälzt allgemein bestehende Beförderungsrisiken einseitig auf den rechtsuchenden Bürger ab.

Im Regelfall kann vom Bürger nicht die Darlegung von Vorgängen innerhalb der Organisationsstruktur der Dienstleistungsanbieter verlangt werden, da diese sich regelmäßig der Kenntnis des Nutzers entziehen. Hier besteht kein Unterschied zwischen der Beförderung durch die Deutsche Post AG und der durch andere Anbieter.

Im vorliegenden Verfahren hat der Bf glaubhaft gemacht, daß der Schriftsatz 11 Tage vor Fristablauf aufgegeben worden ist. Angesichts einer zweimaligen wöchentlichen Beförderung durch den Kurierdienst durfte der Bf davon ausgehen, daß der Schriftsatz rechtzeitig beim LArbG eintrifft. Der Bf hat dargelegt, auf welchem Weg und in welchen Zeitabständen die Beförderung erfolgt. Verlangt man weiteren Vortrag, so wird die Benutzung eines Kurierdienstes faktisch ausgeschlossen, denn dem Bürger ist es regelmäßig nicht möglich, bei Inanspruchnahme eines solchen Dienstes derart weitreichende Erkundigungen einzuholen.