Bundesverfassungsgericht

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Strafaussetzung zur Bewährung setzt Einzelfallprüfung voraus, ob vom Strafgefangenen noch die Begehung rechtswidriger Taten droht

Pressemitteilung Nr. 115/1999 vom 4. November 1999

Beschluss vom 24. Oktober 1999
2 BvR 1538/99

Die 2. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG hat auf die Verfassungsbeschwerde (Vb) eines Strafgefangenen gerichtliche Beschlüsse aufgehoben, mit denen ein Antrag des Strafgefangenen auf Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung abgelehnt worden war.

Die Sache ist an das Landgericht (LG) zurückverwiesen worden. Es muß den Antrag des Gefangenen unter Berücksichtigung dieser verfassungsgerichtlichen Entscheidung nochmals prüfen.

[ Hinweis: Diese Pressemitteilung wurde berichtigt. ]

I.

Der Beschwerdeführer (Bf) verbüßt eine wegen Totschlags verhängte Freiheitsstrafe von 12 Jahren. Seinen Antrag auf Aussetzung des Strafrestes von 1/3 zur Bewährung (§ 57 Abs. 1 StGB; Wortlaut siehe S. 4) lehnten das LG und das Oberlandesgericht (OLG) ab.

Hiergegen erhob der Bf Vb und rügte insbesondere eine Verletzung seines Freiheitsgrundrechts aus Art. 2 Abs. 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 GG (Anforderungen für Freiheitsbeschränkungen).

II.

Die Vb wurde zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung von Grundrechten des Bf angezeigt ist.

Zur Begründung heißt es u.a.:

Beide Vollstreckungsgerichte haben die Auseinandersetzung mit der Frage vernachlässigt, ob von dem Bf zum jetzigen Zeitpunkt noch die Begehung rechtswidriger Taten droht. Die Gerichte haben damit das Freiheitsgrundrecht des Bf nicht hinreichend beachtet.

Die Kammer führt hinsichtlich der Entscheidung des LG aus, daß sich dieses allein auf die aus seiner Sicht nach wie vor unzutreffenden Gründe zweier acht bzw. neun Monate zurückliegender, Strafaussetzung versagender Entscheidungen stützt, dabei aber nicht berücksichtigt, daß sich der Bf im Strafvollzug mittlerweile beanstandungsfrei führt. Dieser Umstand hätte bei der nach § 57 Abs. 1 StGB vorzunehmenden prognostischen Gesamtwürdigung zur Gefährlichkeit des Bf nicht außer Betracht bleiben dürfen.

Hinsichtlich der Entscheidung des OLG stellt die Kammer fest, daß die Versagung der Strafaussetzung nicht ausreichend mit Tatsachen belegt ist.

Verfassungsrechtlich unbedenklich ist zwar die Annahme, daß im Hinblick auf die Umstände der vom Bf begangenen Tat seine Entlassung nur in Betracht kommt, wenn eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für künftige Straffreiheit besteht.

Zu beanstanden sind jedoch die Erwägungen, mit denen das OLG eine Chance dafür, daß sich der Bf in Freiheit bewähren werde, verneint. Das Gericht vernachlässigt insoweit die entscheidende Frage, ob und, wenn ja, welche Gefahren von dem Bf heute noch mehr als neun Jahre nach dem Beginn der Freiheitsentziehung ausgehen. Jedenfalls bei einem lang dauernden Vollzug kommt den Umständen der Tat nur noch eine eingeschränkte Aussagekraft zu; mit zunehmender Dauer der Freiheitsentziehung gewinnen dagegen die Umstände an Bedeutung, die Erkenntnisse über das Erreichen des Vollzugsziels und damit wichtige Informationen für die Kriminalprognose vermitteln.

Mit diesen Grundsätzen ist nicht in Einklang zu bringen, daß auch für das OLG das beanstandungslose Verhalten des Bf im Vollzug und die Erfüllung der Arbeitspflicht weitgehend ohne Bedeutung sind. Daran wird deutlich, daß das Gericht sich bei seiner Beurteilung einseitig von den die Gefährlichkeit des Bf in der Vergangenheit prägenden Umständen hat leiten lassen und deshalb nicht zu einer auf einer umfassenden Tatsachengrundlage beruhenden realen Einschätzung der von dem Bf heute ausgehenden Gefahren gelangt ist. Solche Schlußfolgerungen setzen regelmäßig differenzierte Erkenntnisse über die Persönlichkeitsstruktur des Betroffenen und deren Entwicklung im Vollzug voraus, die darüber hinaus nur mit Hilfe eines Sachverständigen zu gewinnen sein werden. Soweit das OLG das Fehlen von Vollzugslockerungen anführt, hätte es im Sinne der von Verfassungs wegen gebotenen umfänglichen Sachaufklärung auch klären müssen, aus welchen Gründen solche Lockerungen bisher versagt worden sind. Nur wenn sich herausstellt, daß die Versagung auf einer tragfähigen Begründung beruht, darf auch die Nichtgewährung von Lockerungen in vollem Umfang zum Nachteil des Bf verwertet werden.

Anlage zur Pressemitteilung Nr. 115/99 vom 4. November 1999

Wortlaut des § 57 Abs. 1 StGB

§ 57 Aussetzung des Strafrestes bei zeitiger Freiheitsstrafe

(1) 1) Das Gericht setzt die Vollstreckung des Restes einer zeitigen Freiheitsstrafe zur Bewährung aus, wenn

  1. zwei Drittel der verhängten Strafe, mindestens jedoch zwei Monate, verbüßt sind,
  2. dies unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann, und
  3. der Verurteilte einwilligt.

2) Bei der Entscheidung sind namentlich die Persönlichkeit des Verurteilten, sein Vorleben, die Umstände seiner Tat, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts, das Verhalten des Verurteilten im Vollzug, seine Lebensverhältnisse und die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Aussetzung für ihn zu erwarten sind.