Bundesverfassungsgericht

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Zur Ausbildungsförderung von Personen, die die gesetzliche Altersgrenze überschritten haben

Pressemitteilung Nr. 143/1999 vom 21. Dezember 1999

Beschluss vom 26. November 1999
1 BvR 653/99

Die 2. Kammer des Ersten Senats des BVerfG hat in einem Verfassungsbeschwerde (Vb)-Verfahren darauf hingewiesen, daß über 30 Jahre alte alleinerziehende Mütter nicht schon deshalb von BAföG-Leistungen ausgeschlossen werden dürfen, weil sie einer Erwerbstätigkeit nachgegangen sind und nicht vorher eine Ausbildung begonnen haben.

Die Vb einer über 30 Jahre alten alleinerziehenden Mutter gegen die vorläufige verwaltungsgerichtliche Versagung von Ausbildungsförderung ist im Ergebnis allerdings deshalb nicht zur Entscheidung angenommen worden, weil eine Aufhebung der im Eilverfahren ergangenen verwaltungsgerichtlichen Entscheidung keine beschleunigende Wirkung hätte. Hinreichender Rechtsschutz zugunsten der Beschwerdeführerin (Bf) ist gewährleistet, wenn die zuständige Behörde bei ihrer (abschließenden) Entscheidung über den Leistungsantrag die verfassungsrechtlichen Erwägungen der Kammer berücksichtigt.

I.

1. Das Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) schließt grundsätzlich eine Förderung aus, wenn der Auszubildende bei Beginn des Abschnitts, für den er Ausbildungsförderung begehrt, das 30. Lebensjahr überschritten hat (§ 10 Abs. 3 Satz 1). Nach Überschreiten dieser Altersgrenze ist eine Ausbildungsförderung insbesondere dann noch möglich, wenn der Auszubildende durch persönliche oder familiäre Gründe, insbesondere die Erziehung von Kindern bis zu zehn Jahren gehindert war, den Ausbildungsabschnitt rechtzeitig zu beginnen. Voraussetzung ist allerdings, daß nach Erreichen der Zugangsvoraussetzungen oder dem Wegfall der Hinderungsgründe die Ausbildung unverzüglich aufgenommen wird (§ 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 und Satz 3 BAföG).

2. Die über 30 Jahre alte Bf, die seit 1987 ihre beiden Kinder neben einer Erwerbstätigkeit erzogen hat, begehrt die Bewilligung von Ausbildungsförderung, um die allgemeine Hochschulreife auf dem Zweiten Bildungsweg zu erwerben.

Die zuständige Behörde lehnte ihren Antrag auf Vorabentscheidung (§ 46 Abs. 5 BAföG) mit der Begründung ab, angesichts der Berufstätigkeit der Bf fehle es an einem anerkennenswerten Verzögerungsgrund, denn die Bf habe sich nicht ausschließlich der Kindererziehung gewidmet. Wer berufstätig gewesen sei, hätte statt dessen auch die Ausbildung fortsetzen können.

Widerspruch und Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung blieben erfolglos: Die Bf hätte die angestrebte Ausbildung anstelle der Erwerbstätigkeit beginnen können. Die Erziehung der beiden Kinder sei insoweit kein Hinderungsgrund, weil sie in den Zeiten der Erwerbstätigkeit ohnehin die Erziehung während der Arbeitszeit nicht wahrgenommen hätte.

Hiergegen erhob die Bf Vb und rügte insbesondere einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG). Sie werde als Alleinerziehende gegenüber Müttern aus arbeitsteiligen Familien schlechter gestellt. Nur diese könnten die gesetzlichen Voraussetzungen
erfüllen, indem sie ausschließlich der Kindererziehung bis zu deren zehnten Lebensjahr nachgingen, während der Partner den Lebensunterhalt verdiene.

Über die von der Bf erhobene Klage (= Hauptsacheverfahren zu § 46 Abs. 5 BAföG) hat das Verwaltungsgericht noch nicht entschieden.

II.

Die 2. Kammer des Ersten Senats hat zwar die Vb nicht zur Entscheidung angenommen, weil der Bf hierdurch kein besonders schwerer Nachteil entsteht. Eine Aufhebung der angegriffenen, im Eilverfahren ergangenen verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen hätte keine beschleunigende Wirkung. Hinreichender Rechtsschutz ist jedoch gewährleistet, wenn die für die Bewilligung der Ausbildungsförderung zuständige Behörde bei der Entscheidung über den mittlerweile zusätzlich gestellten Antrag der Bf auf Ausbildungsförderung die folgenden verfassungsrechtlichen Erwägungen berücksichtigt:

1. Im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG ist eine sachwidrige Ungleichbehandlung folgender Personengruppen zu vermeiden:

  • Alleinerziehende, die ohne eigene Erwerbstätigkeit auf Sozialhilfe angewiesen wären, im Vergleich zu
  • ausbildungswilligen Personen, die sich auf gesicherter materieller Grundlage der ganztägigen Kindererziehung gewidmet haben, bevor sie nach Überschreiten der Altersgrenze eine Ausbildung beginnen.

Insoweit ist zu berücksichtigen, daß das Bemühen, den Kindesunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit sicherzustellen, auf einer verfassungsrechtlichen Verpflichtung (Art. 6 Abs. 2 GG) beruht.

Insbesondere bei der Sorge für Unterhalt und Erziehung nichtehelicher Kinder verbietet es sich, deren Mütter bei Erwerbstätigkeit von BAföG-Leistungen auszuschließen. Eine solche Auslegung widerstreitet dem verfassungsrechtlichen Gebot, für die nichtehelichen Kinder die gleichen Bedingungen für ihre Entwicklung zu schaffen wie für die ehelichen Kinder.

Die einem Antrag auf Gewährung von BAföG-Leistungen vorausgehende Erwerbstätigkeit einer alleinerziehenden Person darf allenfalls dann zu deren Versagung im Rahmen von § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 und Satz 3 BAföG führen, wenn das Familieneinkommen auch ohne die Erwerbstätigkeit oberhalb der Leistungen der Sozialhilfe läge. Hat jedoch eine alleinerziehende Person nur die Wahl zwischen ganztägiger Kindererziehung unter Inanspruchnahme von Sozialhilfe oder Betreuung der Kinder durch Dritte, um selbst einer Erwerbstätigkeit nachgehen zu können, so darf sie wegen dieses wirtschaftlichen Zwangs nicht schlechtergestellt werden als eine Person, die sich ohne wirtschaftliche Sorgen ganz der Kindererziehung widmen kann.

Dient die Entscheidung zugunsten der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit dazu, der Sozialhilfebedürftigkeit zu entgehen, so kann der alleinerziehenden Person auch nicht entgegengehalten werden, sie hätte eine Ausbildung beginnen können.

2. § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 BAföG kann deshalb bei verfassungskonformer Auslegung zugunsten der Bf eingreifen, wenn sie in den Zeiten der Erwerbstätigkeit oder des Bezugs von Lohnersatzleistungen (z.B. Arbeitslosenhilfe, Unterhaltsgeld) ohne diese Einkünfte auf (zusätzliche) Sozialhilfe angewiesen wäre.