Bundesverfassungsgericht

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Erfolglose Verfassungsbeschwerde im Zusammenhang mit der Sanierung radioaktiver Altlasten des früheren Uranbergbaus in der DDR

Pressemitteilung Nr. 3/2000 vom 11. Januar 2000

Beschluss vom 02. Dezember 1999
1 BvR 1580/91

Das Verfahren betraf gesetzliche Vorschriften des Einigungsvertrages (EV) im Zusammenhang mit der Sanierung der radioaktiven Altlasten des früheren Uranbergbaus (Wismut GmbH) in der DDR. Die 1. Kammer des Ersten Senats des BVerfG hat die hiergegen von insgesamt neun Bürgerinnen und Bürgern aus den neuen Ländern eingelegte Verfassungsbeschwerde (Vb) nicht zur Entscheidung angenommen.

I.

Die Beschwerdeführer (Bf) wendeten sich gegen Bestimmungen des EV, wonach für die Sanierung der radioaktiven Altlasten des früheren Uranbergbaus in der DDR weiterhin das Strahlenschutzrecht der DDR gilt. Mit dieser Fortgeltungsregelung werde für die Menschen in der betroffenen Uranbergbauregion ein den Standard der Strahlenschutzverordnung der Bundesrepublik Deutschland weit unterschreitendes Strahlenschutzniveau festgeschrieben. Als verfassungsrechtliches Mindesterfordernis müsse jedoch die Verordnung mit ihrem so genannten 30-Millirem-Konzept auch für die Uranbergbausanierung in den neuen Ländern Anwendung finden. Die DDR-Vorschriften gewährleisteten dagegen lediglich ein geringeres Schutzniveau und genügten damit nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Die Bf rügten eine Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 (Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit) und einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG (allgemeiner Gleichheitssatz).

II.

Die 1. Kammer des Ersten Senats hat die Vb mangels Erfolgsaussicht nicht zur Entscheidung angenommen.

Zur Begründung heißt es u.a.:

1. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG Nach der Rechtsprechung des BVerfG erschöpft sich dieses Grundrecht nicht in einem subjektiven Abwehrrecht gegenüber staatlichen Eingriffen in das Leben und die körperliche Unversehrtheit. Vielmehr folgt aus ihm auch eine Schutzpflicht des Staates, den Einzelnen vor einer Beeinträchtigung des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit zu schützen. Bei der Erfüllung dieser Schutzpflicht kommt der öffentlichen Gewalt aber ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu, der auch Raum läßt, etwa konkurrierende öffentliche und private Interessen zu berücksichtigen. Das BVerfG kann eine Verletzung der Schutzpflicht nur feststellen, wenn die öffentliche Gewalt Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen hat oder offensichtlich die getroffenen Regelungen und Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das Schutzziel zu erreichen. Diese Begrenzung der verfassungsrechtlichen Schutzpflicht auf eine Evidenzkontrolle ist geboten, weil es regelmäßig eine höchst komplexe Frage ist, wie eine positive staatliche Schutzpflicht durch aktive staatliche Maßnahmen zu verwirklichen ist.

Gemessen hieran kann nicht festgestellt werden, daß die fortgeltenden Grenzwerte des Strahlenschutzrechts der DDR gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich wären, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder erheblich dahinter zurückblieben. Denn bei dem bundesdeutschen Strahlenschutzrecht handelt es sich nicht um einen Mindeststandard, vielmehr geht es über den Standard in vergleichbaren westlichen Industriestaaten und über die internationalen Empfehlungen und Normen hinaus. Dem Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit dienen jedoch auch die Regelungen im Strahlenschutzrecht der DDR, die den Empfehlungen der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP) folgen und die EURATOM-Grundnormen erfüllen. Es kann verfassungsgerichtlich nicht festgestellt werden, daß diese Regelungen gänzlich ungeeignet sind, das nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gebotene Schutzziel zu erreichen. Die international empfohlenen und anerkannten Grenzwerte, die das Strahlenschutzrecht der DDR umsetzt, lassen sich zwar nicht als Beweismittel für die wissenschaftliche Richtigkeit ihnen entsprechender Vorschriften zum Bevölkerungsschutz verwenden, sie geben aber einen im Rahmen einer Evidenzkontrolle maßgeblichen Hinweis auf deren Plausibilität.

2. Art. 3 Abs. 1 GG Die angegriffenen Bestimmungen verstoßen auch nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz. Die Ungleichbehandlung der von den Bestimmungen betroffenen Bürger im Vergleich zu den Bewohnern der alten Bundesländer ist durch sachliche Gründe gerechtfertigt. Der Uranbergbau in der DDR hat Schäden von singulärem Ausmaß hinterlassen, denen nicht mit den präventiven Anforderungen an die Auslegung, Errichtung und den Betrieb kerntechnischer Anlagen und Einrichtungen sowie an sonstige Tätigkeiten im Sinne der bundesdeutschen Strahlenschutzverordnung begegnet werden kann. Wie sonstige Altlasten erfordern sie vielmehr eine Sanierung mit dem Ziel, daß dauerhaft keine Gefahren und erhebliche Nachteile für den Einzelnen oder die Allgemeinheit entstehen. An die Sanierung von Altlasten dürfen nicht die Zielvorstellungen des Vorsorgeprinzips angelegt werden. Sanierungsziele bei Altlasten werden stets anders gebildet als Vorsorgegrenzwerte im anlagenbezogenen Umweltschutz und bleiben hinter diesen regelmäßig zurück. Dies hat auch der Sachverständigenrat für Umweltfragen in seinem ersten Altlastengutachten von 1990 festgestellt und darauf hingewiesen, daß die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes vor Eintritt einer Verunreinigung aus naturwissenschaftlichen und technischen Gründen an Grenzen stoße. Das trifft für die durch den Bergbau ans Tageslicht gebrachten radioaktiven Stoffe in besonderem Maß zu, denn die Radioaktivität kann nicht etwa mit den Stoffen beseitigt werden; es können nur die Auswirkungen auf die Gesundheit der Bewohner der betroffenen Bereiche verringert werden, indem durch Abdeckung, Umlagerung oder andere Sanierungsmaßnahmen die Immisionsbelastung vor allem in Wohngebieten vermindert wird. Diese unterschiedlichen Zielvorstellungen im Hinblick auf das Vorsorgeprinzip einerseits und die Altlastensanierung andererseits rechtfertigen die abweichende Sonderregelung für die Sanierung der Hinterlassenschaften des DDR-Uranbergbaus.

Karlsruhe, den 11. Januar 2000