Bundesverfassungsgericht

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Effektiver Rechtsschutz gegen Prämienerhöhungen privater Krankenversicherungen muss gewährleistet sein

Pressemitteilung Nr. 8/2000 vom 21. Januar 2000

Beschluss vom 28. Dezember 1999
1 BvR 2203/98

Die 2. Kammer des Ersten Senats des BVerfG hat in einem Verfassungsbeschwerde (Vb)-Verfahren darauf hingewiesen, dass das Recht auf Gewährleistung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) die Gerichte verpflichtet, bei Prämienerhöhungen privater Krankenversicherungen das Interesse der Versicherungsnehmer an einer umfassenden Überprüfung der Erhöhungen mit einem schutzwürdigen Interesse der Krankenversicherung an der Geheimhaltung der Berechnungsgrundlagen zum Ausgleich zu bringen. Von Verfassungs wegen darf eine Überprüfung der Berechnung der Prämienerhöhungen nicht allein mit Rücksicht auf Geheimhaltungsinteressen der Versicherung gänzlich versagt werden.

1. Bis Juli 1994 mussten Prämienerhöhungen privater Krankenversicherungen vom Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen genehmigt werden. Die Genehmigung durfte nur versagt werden, wenn die Belange der Versicherten nicht ausreichend gewahrt oder die Verpflichtungen aus den Versicherungen nicht genügend als dauernd erfüllbar dargetan waren. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) konnte diese Genehmigung im verwaltungsgerichtlichen Verfahren vom Versicherungsnehmer nicht angefochten werden. Erst gegen die Prämienerhöhung selbst konnte Klage zum Zivilgericht erhoben werden. Auf Grund gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben wurde im Juli 1994 die gesetzliche Grundlage geändert. Seitdem darf in den hier einschlägigen Fällen eine Prämienerhöhung erst in Kraft gesetzt werden, nachdem ein von der Krankenversicherung unabhängiger Treuhänder ihr zugestimmt hat. Die Krankenversicherung ist bei einer nicht als vorübergehend anzusehenden Veränderung der Verhältnisse des Gesundheitswesens berechtigt, die Versicherungsbedingungen und die Tarifbestimmungen den Verhältnissen in angemessener Weise anzupassen, wenn die Änderungen zur hinreichenden Wahrung der Belange der Versicherten erforderlich erscheinen. Die Versicherung muss dem Treuhänder sämtliche für die Prüfung der Prämienänderungen erforderlichen Berechnungsgrundlagen vorlegen. Unter den Zivilgerichten besteht Uneinigkeit über Art und Ausmaß der Überprüfung einseitiger Prämienerhöhungen. So wird zum Teil verlangt, dass die Krankenversicherung ihre Berechnungsgrundlagen offen legt, zum Teil wird nur überprüft, ob das Verfahren fehlerfrei war.

2. Der Beschwerdeführer (Bf) wandte sich gegen Prämienerhöhungen, die vor und nach der Rechtsänderung von 1994 vorgenommen worden waren. Seine Klage blieb erfolglos. Amtsgericht und Landgericht vertraten die Auffassung, ein Versicherungsnehmer müsse darauf vertrauen, dass die Aufsichtsbehörde oder der Treuhänder die Berechnung der Prämienerhöhungen ordnungsgemäß geprüft hätten. Von den Zivilgerichten sei lediglich zu prüfen, ob die Genehmigung der Aufsichtsbehörde oder die Zustimmung des Treuhänders vorliege. Die Berechnungsgrundlagen seien ein Geschäftsgeheimnis, das die Krankenversicherung nicht zu offenbaren brauche. Die Vb hat Erfolg. Die Urteile verletzen den Bf in seinem Recht auf Gewährleistung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip. Die 2. Kammer des Ersten Senats hat die Urteile aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen.

Zur Begründung heißt es u.a.:

1. Das Rechtsstaatsprinzip des GG gewährt einen wirkungsvollen Rechtsschutz. So müssen Beteiligte eines Zivilverfahrens die Möglichkeit haben, sich im Prozess mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten zu behaupten. Zu einem wirkungsvollen Rechtsschutz gehört auch, dass der Richter die Richtigkeit bestrittener Tatsachen nicht ohne hinreichende Prüfung bejaht. Ohne eine solche Prüfung fehlt es an einer dem Rechtsstaatsprinzip genügenden Entscheidungsgrundlage.

2. Diesem Erfordernis halten die angegriffenen Urteile nicht stand. Soweit es um die bis Juli 1994 erforderliche Genehmigung durch das Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen ging, durfte eine sachliche Überprüfung der Prämienerhöhungen nicht abgelehnt werden. Anderenfalls wären derartige Erhöhungen jeglicher wirkungsvollen richterlichen Kontrolle auf Veranlassung und unter Mitwirkung des Versicherungsnehmers entzogen gewesen. Zudem diente nach der Rechtsprechung des BVerwG die Genehmigung allein dem öffentlichen Interesse an der Erhaltung der Leistungsfähigkeit der Versicherungsunternehmen. Mit diesem sind die individuellen Interessen einzelner Versicherungsnehmer gerade in der privaten Versicherung nicht in jedem Fall identisch.

Auch durch die Einschaltung eines Treuhänders wird eine gerichtliche Prüfung nicht entbehrlich. Das gilt umso mehr, als der Treuhänder allein durch das Versicherungsunternehmen bestellt wird und dieser der Aufsichtsbehörde weder auskunfts- noch berichtspflichtig ist.

3. Die Sache ist an das Landgericht zurückverwiesen worden. Dieses Gericht hat das Interesse des Bf an einer umfassenden tatsächlichen und rechtlichen Überprüfung der Berechnung der Prämienerhöhungen mit einem schutzwürdigen Interesse der beklagten Krankenversicherung an der Geheimhaltung der Berechnungsgrundlagen zum Ausgleich zu bringen. Von Verfassungs wegen darf eine sachliche Überprüfung nicht allein mit Rücksicht auf Geheimhaltungsinteressen der beklagten Versicherung gänzlich versagt werden.

Karlsruhe, den 21. Januar 2000