Bundesverfassungsgericht

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Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde einer türkischen Asylbewerberin

Pressemitteilung Nr. 9/2000 vom 27. Januar 2000

Beschluss vom 07. Mai 1998
2 BvR 2125/97

Auf die Verfassungsbeschwerde (Vb) einer aus der Südosttürkei stammenden türkischen Staatsangehörigen kurdischer Volkszugehörigkeit hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG die Entscheidung eines Oberverwaltungsgerichts (OVG), die Berufung gegen ein Urteil des Verwaltungsgerichts (VG) nicht zuzulassen, aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das OVG zurückverwiesen. In dem Verfahren geht es um die Ablehnung des Asylantrags und die der Beschwerdeführerin (Bf) angedrohte Abschiebung in die Türkei. Nachdem das VG ihre Klage gegen den negativen Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) abgelehnt hatte, begehrte die Bf die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung.

Die Berufung hätte so die 1. Kammer des Zweiten Senats wegen divergierender Rechtsprechung des VG einerseits und des OVG andererseits zugelassen werden müssen. Denn das OVG hatte nach dem Urteil des VG in einem anderen Verfahren die von der Bf aufgeworfene grundsätzliche Frage im Sinne der Bf, jedoch abweichend von dem Urteil des VG entschieden.

I.

Die im März 1995 aus der Südosttürkei eingereiste Bf hatte im Asylverfahren u.a. vorgetragen, sie sei wegen Unterstützung der PKK von türkischen Sicherheitskräften im März 1994 festgenommen, geschlagen und erst drei Tage später freigelassen worden. Ihre gegen den ablehnenden Bundesamtsbescheid erhobene Klage blieb erfolglos. Das VG entschied im Februar 1996, die Bf habe eine politische Verfolgung nicht glaubhaft gemacht. Es bestehe zumindest eine hinreichende Verfolgungssicherheit für die Bf, da gegen sie keine landesweiten Fahndungsmaßnahmen eingeleitet worden seien. Daher lägen auch keine Abschiebungshindernisse vor. Auch der Antrag der Bf an das OVG, gegen dieses Urteil wegen grundsätzlicher Bedeutung die Berufung zuzulassen, blieb erfolglos. In seiner Begründung wies das OVG im Oktober 1997 u.a. darauf hin, dass es die Grundsatzfrage bereits geklärt habe: Ob ein Kurde, der von den türkischen Sicherheitskräften seines Heimatortes einmal wegen Unterstützung der PKK verdächtigt worden sei, türkeiweit politische Verfolgung zu befürchten habe, sei vom (OVG) Senat in einem anderen Verfahren bereits durch Urteil von September 1996 geklärt worden. Danach seien Personen aus der Südosttürkei, die bei den Sicherheitskräften am Heimatort in Verdacht stünden, mit der militanten kurdischen Bewegung zu sympathisieren, auch in der Westtürkei nicht hinreichend sicher vor politischer Verfolgung.

Hiergegen erhob die Bf Vb und rügte insbesondere einen Verstoß gegen die Rechtsweggarantie (Art. 19 Abs. 4 GG). Das Urteil des OVG von September 1996 habe bei Stellung des Zulassungsantrags noch nicht vorgelegen. Das OVG hätte deshalb die angestrebte Grundsatzberufung wegen der abweichenden Auffassung des VG in eine Divergenzberufung umdeuten müssen. Die Bf sei willkürlich nur deshalb um ihr Asylrecht gebracht worden, weil das OVG zufällig einen anderen Fall mit derselben grundsätzlichen Bedeutung ausgewählt habe.

II.

Die 1. Kammer des Zweiten Senats hat der Bf Recht gegeben. Die Vb ist offensichtlich begründet.

Die Kammer führt u.a. aus:

Im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG darf ein Gericht nicht durch übermäßig strenge Handhabung verfahrensrechtlicher Vorschriften den Anspruch auf gerichtliche Durchsetzung des materiellen Rechts unzumutbar verkürzen. Auch ein Rechtsmittelgericht darf ein von der jeweiligen Rechtsordnung eröffnetes Rechtsmittel daher nicht ineffektiv machen und für den Bf "leer laufen" lassen.

Diesen Anforderungen genügt der Beschluss des OVG nicht. Es hätte die Grundsatzberufung in eine Divergenzberufung umdeuten müssen. Denn im Zeitpunkt seiner Beschlussfassung hatte das OVG in einem anderen Verfahren bereits entschieden, dass eine hinreichende Verfolgungssicherheit nicht erst bei Einleitung landesweiter Fahndungsmaßnahmen zu verneinen sei, sondern bereits bei einem bloßen Verdacht der Sicherheitsbehörden am Heimatort, mit der militanten kurdischen Bewegung zu sympathisieren. Dies entspricht der Rechtsauffassung der Bf, steht jedoch der Ansicht des VG entgegen. Das Urteil des VG von Februar 1996 wich also seit September 1996 objektiv von der Rechtsprechung des OVG ab, so dass der auf grundsätzliche Bedeutung gestützte Berufungszulassungsantrag der Bf umzudeuten war.

Die Sache ist zur erneuten Entscheidung an das OVG zurückverwiesen worden. Lässt es die Berufung zu, wird es Gelegenheit haben, das verwaltungsgerichtliche Urteil umfassend zu prüfen und auf Grund einer abweichenden asylrechtlichen Bewertung des Sachverhaltes ggf. abzuändern.

Karlsruhe, den 27. Januar 2000