Bundesverfassungsgericht

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Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde einer “Grenzgängerin“ gegen Versagung von Arbeitslosengeld

Pressemitteilung Nr. 16/2000 vom 9. Februar 2000

Beschluss vom 30. Dezember 1999
1 BvR 809/95

In dem Verfassungsbeschwerde (Vb)-Verfahren ging es um die Frage, ob eine grenznah zur Bundesrepublik Deutschland wohnende Angehörige eines Staates, der nicht Mitglied der Europäischen Gemeinschaft ist, Anspruch auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit hat, wenn sie in der Arbeitslosenversicherung der Bundesrepublik pflichtversichert war und vorbehaltlich ihres Wohnsitzes die Leistungsvoraussetzungen erfüllt. Die 2. Kammer des Ersten Senats des BVerfG hat insoweit einstimmig folgendes festgestellt: Erfüllt ein zuvor in Deutschland beitragspflichtiger "Grenzgänger" den Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe, so steht der Auslandswohnsitz als solcher dem Anspruch nicht entgegen.

I.

1. Leistungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz erhält, vorbehaltlich der übrigen Leistungsvoraussetzungen, nach dem Sozialgesetzbuch grundsätzlich nur, wer seinen Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland hat. Anspruchsberechtigt sind darüber hinaus nach dem Recht der Europäischen Gemeinschaft auch Angehörige von Mitgliedstaaten dieser Gemeinschaft sowie solche Personen, denen auf Grund bilateraler Abkommen ein entsprechendes Recht eingeräumt ist.

2. Die Beschwerdeführerin (Bf) ist österreichische Staatsangehörige. Von 1980 bis 1988 hatte sie eine versicherungspflichtige Beschäftigung in der Bundesrepublik Deutschland. Im April 1988 wurde sie arbeitslos. Zu diesem Zeitpunkt lebte sie bereits in einer grenznahen belgischen Gemeinde. Ihrem Antrag auf Gewährung von Arbeitslosengeld lehnte das Arbeitsamt ab. Eine Klage hiergegen blieb erfolglos. Zur Begründung hieß es u.a., die Bf habe weder ihren Wohnsitz im Geltungsbereich des Sozialgesetzbuchs noch sei sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaates der EG (Österreich trat der EG erst 1995 bei).

II.

Die gegen den Bescheid des Arbeitsamtes sowie gegen die gerichtlichen Entscheidungen erhobene Vb hat Erfolg. Die Versagung des Arbeitslosengeldes verstößt gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG). Die 2. Kammer des Ersten Senats hat das Verfahren zur erneuten Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Zur Begründung heißt es u.a.:

Die den angegriffenen Entscheidungen zu Grunde liegende Auffassung ist insoweit mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar, als "Grenzgänger" unter Hinweis auf ihren Wohnsitz auch dann keine Leistungen bei Arbeitslosigkeit erhalten, wenn im Übrigen alle Voraussetzungen erfüllt sind. Zwar ist es von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, wenn der Gesetzgeber Wohn- und Aufenthaltsort als Kriterium wählt, nach dem sich u.a. die Gewährung von Leistungen bei Arbeitslosigkeit bestimmt. Er kann auch die Beitragspflicht an den Beschäftigungsort oder an den Wohn- oder Aufenthaltsort anknüpfen. Dies hat in der Arbeitslosenversicherung vor allem Bedeutung für Personen mit grenznahem Auslandswohnsitz, die im Inland beschäftigt und versichert sind ("Grenzgänger"). Deren besondere Situation ist durch ihre Nähe zum Staatsgebiet der Bundesrepublik, ihre zwangsweise Einbeziehung in das nationale Sicherungssystem des Beschäftigungsorts mit entsprechender Beitragspflicht und durch den fortbestehenden Bezug zum Inlandsarbeitsmarkt gekennzeichnet. Gründe, die für die Gruppe der "Grenzgänger" einen Wechsel des Anknüpfungssachverhaltsrechts rechtfertigen könnten, sind nicht ersichtlich. Steht das Wohnsitzprinzip dem Eingriff durch Auferlegung von Beiträgen nicht entgegen, so können territoriale Gründe nicht erstmals gegen die Einlösung des mit Beiträgen erworbenen Versicherungsschutzes ins Feld geführt werden. Deshalb gebietet Art. 3 Abs. 1 GG eine verfassungskonforme Auslegung dahingehend, dass dem Anspruch eines zuvor in Deutschland beitragspflichtigen "Grenzgängers" auf Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe der Auslandswohnsitz jedenfalls dann nicht entgegensteht, wenn die übrigen Leistungsvoraussetzungen erfüllt sind.

Karlsruhe, den 9. Februar 2000