Bundesverfassungsgericht

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Informationen zur mündlichen Verhandlung im Verfahren zum "Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz" am 11. April 2000

Pressemitteilung Nr. 39/2000 vom 28. März 2000

Az. 1 BvR 2307/94, 1120/95, 1408/95, 2460/95 und 2471/95

Am 11. April 2000 verhandelt der Erste Senat des BVerfG über fünf von insgesamt 40 Beschwerdeführern (Bf) erhobene Verfassungsbeschwerden gegen das Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz (EALG; vgl. Pressemitteilung Nr. 11/2000 vom 28. Januar 2000). In den Verfahren geht es um die Frage, ob einzelne Regelungen des am 1. Dezember 1994 in Kraft getretenen EALG mit dem GG vereinbar sind.

Im Mittelpunkt steht das Problem der so genannten Wertschere zwischen Wiedergutmachung durch Rückübertragung von Vermögenswerten und Wiedergutmachung durch Entschädigung oder Ausgleichsleistung. Konkret geht es darum, ob einzelne Regelungen des Entschädigungsgesetzes (Art. 1 EALG - EntschG), des Ausgleichsleistungsgesetzes (Art. 2 EALG - AusglLeistG) und des NS-Verfolgtenentschädigungsgesetzes (Art. 3 EALG - NS-VEntschG) deshalb verfassungswidrig sind, weil sie Leistungen vorsehen, die in der Regel unterhalb der heutigen Verkehrswerte der entzogenen und der nach dem Vermögensgesetz zu restituierenden Vermögenswerte liegen.

Das EALG ist veröffentlicht im Bundesgesetzblatt 1994 I S. 2624.

I.

Mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland stellte sich dem Bundesgesetzgeber die Aufgabe, im Beitrittsgebiet begangenes staatliches Unrecht wiedergutzumachen.

Dies geschah zum einen durch das Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen (Ver-mögensgesetz - VermG). Grundsätzlich sind nach diesem Gesetz diskriminierende Eigentums-entziehungen rückgängig zu machen (Grundsatz "Rückgabe vor Entschädigung" - § 3 Abs. 1 VermG). Ausgeschlossen ist die Rückübertragung nach dem VermG bei Unmöglichkeit der Rückgabe (§ 4 Abs. 1, § 5 VermG) oder bei redlichem Erwerb der Vermögenswerte durch Dritte (§ 4 Abs. 2 VermG). Dem Berechtigten ist dann unbeschadet der Möglichkeit der Übereignung eines Ersatzgrundstücks in den Fällen des redlichen Erwerbs Entschädigung zu leisten (§ 9 VermG). Entschädigungen kommt auch dann in Betracht, wenn ein Anspruch auf Rückübertragung besteht, sofern der Berechtigte diese Form der Wiedergutmachung wählt (§ 8 Abs. 1 VermG). Mit Inkfrafttreten des VermG war damit weit gehend geregelt, wer für Vermögensverluste, die im Beitrittsgebiet unter der Verantwortung der DDR eingetreten sind, Anspruch auf Entschädigung hat. Höhe und Ausgestaltung derartiger Ansprüche sind nunmehr in Art. 1 EALG (EntschG; s. unten II) normiert. Darüber hinaus enthält das EALG Regelungen über die Wiedergutmachung für im Beitrittsgebiet unter dem Einfluss der sowjetischen Besatzungsmacht (Art. 2 EALG - AusglLeistG; s. unten III) und auf Grund nationalsozialistischer Verfolgung (Art. 3 EALG - NS-VEntschG; s. unten IV) erlittene Vermögensverluste.

II.

1. Im EntschG ist die Entschädigung für Vermögensverluste im Beitrittsgebiet unter der Verantwortung der DDR geregelt.

Das EntschG enthält u.a. folgende Regelungen:

  • Bemessungsgrundlage: Bemessungsgrundlage für die Höhe der Entschädigung ist der vor der Schädigung zuletzt festgestellte Einheitswert, der mit einem gesetzlich festgelegten Faktor multipliziert wird (§§ 3 f. EntschG).
  • progressive Degression: Sofern der auf Grund der Bemessungs-grundlage ermittelte Betrag (nach Abzug langfristiger Verbindlichkeiten und empfangener Gegenleistungen) 10.000 DM übersteigt, wird die Entschädigung um einen bestimmten Prozentsatz gekürzt. Der Prozentsatz steigt mit der Höhe des ermittelten Betrages progressiv an (§ 7 EntschG).
  • Abzug von Lastenausgleich: Von dem so gekürzten Betrag sind Hauptentschädigung und Zins-zuschläge, die der Berechtigte nach dem Lastenausgleichsgesetz für den Vermögensverlust erhalten hat, abzuziehen (§ 8 EntschG).
  • Schuldverschreibungen: Die Entschädigungsansprüche werden in Form von übertragbaren Schuldverschreibungen erfüllt. Das heißt, der Staat gibt Wertpapiere aus, in denen das Forderungsrecht der Berechtigten verbrieft ist. Diese Schuldverschreibungen werden vom Jahr 2004 an in fünf gleichen Jahresraten getilgt und ab 2004 mit sechs Prozent jährlich verzinst (§ 1 Abs. 1 EntschG).

2. Gegen die Regelungen des EntschG wird vor allem eingewandt, dass sie den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verletzen:

  • Die starre Pauschalierung der Bemessungsgrundlage (§§ 3, 4 EntschG) auf der Basis früherer Einheitswerte sei schon für sich gleichheitswidrig. Es fehle eine Härtefallklausel, nach der eine Wertsteigerung der Vermögenswerte im Einzelfall berücksichtigt werden könnte.
  • Die Unverzinslichkeit der Entschädigungsansprüche bis zum Jahr 2004 und die späte Fälligkeit der Ansprüche (§ 1 Abs. 1 EntschG) stelle eine weitere nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung gegenüber den Fällen dar, in denen die Vermögenswerte an die Berechtigten zurückübertragen werden.
  • Sie werde durch die degressive Kürzung der Ansprüche (§ 7 Abs. 1 EntschG) noch zusätzlich verschärft.
  • Aus der Kombination der genannten Vorschriften ergebe sich eine verfassungswidrige "Wertschere" zwischen Wiedergutmachung durch Rückübertragung von Vermögenswerten und Wiedergutmachung durch Entschädigung.

III.

1. Das AusglLeistG regelt Ausgleichsleistungen für Enteignungen auf besatzungsrechtlicher oder besatzungshoheitlicher Grundlage (1945 bis 1949). Einen Anspruch auf Wiedergutmachung haben Personen, denen im Beitrittsgebiet unter sowjetischer Verantwortung Vermögenswerte entschädigungslos entzogen worden sind. Nach dem Einigungsvertrag und dem VermG werden diese Enteignungen grundsätzlich nicht rückgängig gemacht; der Grundsatz "Rückgabe vor Entschädigung" findet demnach in der Regel hier keine Anwendung.

Das AusglLeistG enthält keine eigenen Bemessungsgrundlagen für die Wiedergutmachung; es verweist vielmehr auf die entsprechenden Regelungen des EntschG (§ 2 Abs. 1 AusglLeistG). Hinzu kommen u.a. folgende Regelungen:

  • Flächenerwerbsprogramm: § 3 AusglLeistG eröffnet die Möglichkeit, bestimmte land- und forstwirtschaftliche Flächen zu besonders günstigen Konditionen zu erwerben.

Zum Erwerb berechtigt sind in einer ersten Stufe u.a. so genannte Wieder- und Neueinrichter (§ 3 Abs. 1, 2 AusglLeistG).

"Wiedereinrichter" im Sinne des Gesetzes sind ortsansässige Landwirte, die früher in der Landwirtschaft selbständig tätig waren und ihren ursprünglichen Betrieb auf zuvor von der Treuhandanstalt bzw. der Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben gepachteten landwirtschaftlichen Flächen wieder eingerichtet haben. Zu den "Wiedereinrichtern" können auch Berechtigte nach dem Entschädigungs- oder nach dem Ausgleichsleistungsgesetz gehören (§ 3 Abs. 2 Satz 3 AusglLeistG).

"Neueinrichter" sind hingegen Personen, die früher noch nie als Landwirte tätig waren, jetzt aber einen landwirtschaftlichen Betrieb selbständig führen wollen. Voraussetzung für ihre Erwerbs-berechtigung ist, dass sie am 3. Oktober 1990 ortsansässig waren.

Neben "Wieder- und Neueinrichtern" sind in einer zweiten Stufe Alteigentümer von land- und forstwirtschaftlichem Vermögen zum privilegierten Erwerb solcher Flächen berechtigt, die nicht für einen Erwerb in der ersten Stufe in Anspruch genommen werden (§ 3 Abs. 5 Satz 1 AusglLeistG). Darüber hinaus ist geregelt, dass Alteigentümer von forstwirtschaftlichen Flächen landwirtschaftliche Flächen nicht erwerben können (§ 3 Abs. 5 Satz 6 AusglLeistG i.V.m. § 3 Satz 2 Flächenerwerbsverordnung). Für Alteigentümer landwirtschaftlicher Flächen besteht eine solche Einschränkung bezüglich forstwirtschaftlich genutzter Flächen nicht.

  • Im AusglLeistG ist vorgesehen, bewegliche Sachen an die früheren Eigentümer zurückzugeben (§ 5 AusglLeistG). Damit wird eine Ausnahme von dem Grundsatz gemacht, dass die zwischen 1945 und 1949 auf besatzungsrechtlicher oder besatzungshoheitlicher Grundlage enteigneten Vermögenswerte nicht zurückübertragen werden.

Kulturgut, das zur Ausstellung für die Öffentlichkeit bestimmt ist, bleibt allerdings für die Dauer von 20 Jahren unentgeltlich der Öffentlichkeit oder Forschung überlassen (unentgeltlicher öffentlicher Nießbrauch). Nach Ablauf dieser Zeit kann der Nießbrauchsberechtigte die Fortsetzung des Nießbrauchs gegen angemessenes Entgelt verlangen (§ 5 Abs. 2 AusglLeistG).

2. Die Bf rügen insbesondere die Verletzung des allgemeinen Gleichheitsatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) und beanstanden u.a. Folgendes:

  • Auch bei der Leistungsbemessung nach dem AusglLeistG, das insoweit auf das EntschG verweist (§ 2 Abs. 1 AusglLeistG), ergebe sich eine "Wertschere" zwischen Wiedergutmachung durch Rückübertragung von Vermögenswerten und Wiedergutmachung in Geld bzw. Geldeswert.
  • Das Flächenerwerbsprogramm (§ 3 AusglLeistG) bevorzuge Personen, die von Enteignungen auf besatzungsrechtlicher oder besatzungshoheitlicher Grundlage nicht betroffen seien und deshalb keinen Anspruch auf Wiedergutmachung hätten.
  • Die früheren Eigentümer von forstwirtschaftlichen Flächen seien im Verhältnis zu den Alteigentümern landwirtschaftlicher Flächen benachteiligt. Während Alteigentümer landwirtschaftlicher Flächen auch Forstflächen erwerben könnten (§ 3 Abs. 8 AusglLeistG), sei der Erwerb landwirtschaftlicher Flächen für Alteigentümer forstwirtschaftlicher Flächen eingeschränkt oder ausgeschlossen (§ 3 Abs. 5 Satz 6 AusglLeistG).
  • Eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung ergebe sich zudem daraus, dass bewegliche Sachen grundsätzlich zurückübertragen werden (§ 5 AusglLeistG), während eine Restitution bei Immobilien ausgeschlossen sei (§ 1 Abs. 8 Buchstabe a VermG).
  • Die Regelung, dass an Kulturgütern ein 20-jähriges unentgeltliches Nießbrauchsrecht bestehe, stelle im Verhältnis zu den Fällen, in denen die Gegenstände uneingeschränkt auf den früheren Eigentümer zurückübertragen würden, ebenfalls einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz dar.

IV.

1. Das NS-Verfolgtenentschädigungsgesetz (NS-VEntschG) regelt Entschädigungsansprüche von Personen, die vom NS-Regime verfolgt wurden. Das NS-VEntschG verweist im Wesentlichen auf das Bundesrückerstattungsgesetz. Im Grundsatz soll die Entschädigung von NS-Verfolgten günstiger sein als diejenige nach dem EntschG und AusglLeistG.

Bei Vermögenswerten, für die ein Einheitswert festgestellt wird (Grundstücke und Unternehmen), bemisst sich die Höhe der Entschädigung nach dem Vierfachen des vor der Schädigung zuletzt festgestellten Einheitswerts (§ 2 Satz 2 NS-VEntschG). Die Ansprüche nach dem NS-VEntschG unterliegen im Unterschied zu Ansprüchen nach dem EntschG keiner Degression. Zudem werden diese Entschädigungen ohne zeitliche Verzögerung in Geld ausgezahlt.

2. Gegenüber dem NS-VEntschG wird vor allem eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 und 3 GG (Gleichheitssatz) sowie Art. 14 GG (Eigentumsgarantie) geltend gemacht. Gerügt wird im Wesentlichen Folgendes:

  • Berechtigte nach dem NS-VEntschG würden schlechter behandelt als die nach dem VermG Rückgabeberechtigten, die über den heutigen Verkehrswert der ehemals entzogenen Vermögenswerte verfügen könnten. Dies stelle eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes dar (Art. 3 Abs. 1 GG).
  • In der Verwendung des Multiplikators 4 in § 2 Satz 2 NS-VEntschG liege weiter eine Schlechterbehandlung auch gegenüber den Berechtigten nach dem EntschG, deren Entschädigung für den Verlust unbebauter Grundstücke nach dem zwanzigfachen Einheitswert bemessen werde (§ 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 EntschG). Da von dem NS-VEntschG im wesentlichen Menschen jüdischen Glaubens betroffen seien, bedeute diese Ungleichbehandlung auch einen Verstoß gegen das Differenzierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG.
  • Die Verweigerung einer Verkehrswertentschädigung bei Ausschluss der Rückgabe der entzogenen Vermögenswerte stelle außerdem eine teilweise Enteignung dar, die gegen die Eigentumsgarantie verstoße.

Karlsruhe, den 28. März 2000