Bundesverfassungsgericht

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Erfolglose Verfassungsbeschwerde eines Arztes gegen die Pflicht, Krankheitsdiagnosen in verschlüsselter Form an kassenärztliche Vereinigungen weiterzugeben

Pressemitteilung Nr. 49/2000 vom 17. April 2000

Beschluss vom 10. April 2000
1 BvR 422/00

Der Beschwerdeführer (Bf) - ein zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassener Internist - wollte mit seiner unmittelbar gegen gesetzliche Vorschriften erhobenen Verfassungsbeschwerde (Vb) erreichen, dass die Verpflichtung, Krankheitsdiagnosen bei Honorarforderungen an die kassenärztlichen Vereinigungen nach den "ICD10" (s. unten I.1.) verschlüsselt mitzuteilen, für verfassungswidrig erklärt wird. Er hatte keinen Erfolg. Die 2. Kammer des Ersten Senats des BVerfG hat die Vb nicht zur Entscheidung angenommen. Der Eingriff in die ärztliche Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) ist gerechtfertigt, weil die angegriffenen Regelungen, die der Sicherung der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung dienen, angesichts der Gemeinwohlaufgabe von hohem Rang verhältnismäßig sind.

I.

1. Vertragsärzte sind auf Grund des Gesundheitsstrukturgesetzes von 1992 verpflichtet, in ihrer Abrechnung gegenüber den kassenärztlichen Vereinigungen Angaben zu den jeweiligen Diagnosen zu machen. Die Angaben waren nach dem Schlüssel der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD) grundsätzlich zu verschlüsseln.

Nach einer Rahmenvereinbarung der Spitzenverbände der Krankenkassen, der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und der Deutschen Krankenhausgesellschaft von 1996 blieb es den Vertragsärzten und ärztlichen Einrichtungen jedoch zunächst freigestellt, die Diagnosen in verschlüsselter Form oder in Klarschrift anzugeben.

Das änderte sich, als auf der Grundlage des Gesundheitsreformgesetzes 2000 das Bundesministerium für Gesundheit mit Wirkung zum 1. Januar 2000 die überarbeitete Fassung des Diagnoseschlüssels, die "ICD10-SGB V", in Kraft setzte. Seitdem besteht die Verpflichtung, Diagnosen in verschlüsselter Form bei Honorarabrechnungen an die Krankenkassen weiter zu geben.

2. Der Bf rügte einen Verstoß gegen die Berufsfreiheit. Zur Begründung trug er u.a. vor, die Verschlüsselungspflicht führe dazu, dass die ärztliche Berufstätigkeit ebenso wie die Krankengeschichte der Patienten vollständig kontrollierbar und überprüfbar würden.

II.

Die Vb hat keinen Erfolg.

Soweit der Bf das Arzt/Patientenverhältnis für gefährdet hält, hat er nicht ausreichend dargelegt, inwiefern das von der persönlichen umfassenden Kenntnis und Dokumentation des behandelnden Arztes geprägte Verhältnis durch eine gewisse Vergröberung in der Diagnosestellung gegenüber der kassenärztlichen Vereinigung berührt werden könnte.

Unzulässig ist die Vb auch, soweit der Bf das Grundrecht der gesetzlich Krankenversicherten geltend macht, selbst über die Verwendung ihrer Daten zu entscheiden.

Ein Eingriff in die Berufsfreiheit ist insoweit zu bejahen, als die bereits bisher bestehende zufallmäßíge Erfassung der Therapie nunmehr um eine ziffernmäßige und damit maschinenlesbare Erfassung der Diagnose in den Abrechnungsunterlagen ergänzt wird. Das eröffnet qualitativ andere Kontrollmöglichkeiten; die ärztlichen Kontrollgremien sind nicht mehr auf wenige Stichproben und Zufallsfunde angewiesen.

Dieser Eingriff ist jedoch gerechtfertigt. Er dient der Gemeinwohlaufgabe der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und ist sowohl geeignet als auch erforderlich, um dieses Ziel zu erreichen.

Die Wirtschaftlichkeitsprüfungen in der vertragsärztlichen Versorgung dienen dazu, den Ausgabenzuwachs der gesetzlichen Krankenversicherung zu begrenzen und Anreize zum wirtschaftlichen Verhalten zu vermitteln, die auf Grund der Struktur der Rechtsbeziehungen im Krankenversicherungsrecht fast vollständig fehlen. Zu diesem Zweck hat der Gesetzgeber u.a. eine qualitative Überprüfung des ärztlichen Handelns nach den abgerechneten Gebührenpositionen je Behandlungsfall, bezogen auf die jeweilige Krankheitsdiagnose (Zufälligkeitsprüfung) vorgesehen. Angesichts des Umfang des zu sichtenden Datenmaterials liegt es auf der Hand, dass die Plausibilitätskontrollen erheblich vereinfacht werden, wenn EDV-gestützt geprüft werden kann.

Der vom Bf als "gläserner Arzt" umschriebene Rechtszustand durfte vom Gesetzgeber als ein erforderliches Mittel angesehen werden, das Abrechnungsverhalten von Ärzten dahin zu beeinflussen, nur notwendige und wirtschaftliche Therapien und Verordnungen abzurechnen. Es kommt nicht darauf an, dass aus der Sicht des einzelnen Arztes eine geringere Kontrolle zweifellos ein milderes Mittel wäre. Wesentlich sind die Funktionsfähigkeit des gesamten Abrechnungsverfahrens und die Sicherung eines gerechten Vergütungssystems für alle beteiligten Vertragsärzte.

Gemessen am Gesetzeszweck ist derzeit kein milderes Mittel ersichtlich als eine nach Breite und Tiefe verstärkte Kontrolle, nachdem die Vergangenheit gezeigt hat, das die Ärzteschaft insgesamt mit Mengenausweitungen auf Honorarkürzungen reagiert hat.

Schließlich war vorliegend nicht über den Schutz von Sozialdaten der Patienten zu befinden; denn die Abrechnungen erfolgten arztbezogen. Insoweit sind weder die Diagnose noch die ärztlichen Tätigkeiten, für die Honorierung beansprucht wird, schützenswerte höchstpersönliche Daten.

Karlsruhe, den 17. April 2000