Bundesverfassungsgericht

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Erfolglose Verfassungsbeschwerden gegen strafgerichtliche Verurteilungen wegen "Inverkehrbringens von bedenklichen Arzneimitteln"

Pressemitteilung Nr. 63/2000 vom 12. Mai 2000

Beschluss vom 26. April 2000
2 BvR 1881/99

Die Beschwerdeführer (Bf), ein Apotheker und ein Arzt, hatten gegen ihre strafgerichtlichen Verurteilungen u.a. wegen Inverkehrbringens bedenklicher Arzneimittel Verfassungsbeschwerde (Vb) erhoben. Sie sind der Auffassung, die zu Grunde liegenden Strafnormen des Arzneimittelgesetzes (AMG) verstießen gegen das Bestimmtheitsgebot (Art. 103 Abs. 2 GG).

Die 3. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG hat die Vb mangels Erfolgsaussicht nicht zur Entscheidung angenommen.

I.

Nach den fachgerichtlichen Feststellungen hatten die Bf gesundheitlich bedenkliche Schlankheitskapseln vertrieben. Hinsichtlich der Kapseln bestand einerseits die Gefahr unerwünschter Nebenwirkungen, andererseits handelte es sich um eine pharmakologisch nicht sinnvolle Kombination verschiedener Wirkstoffe, deren Wechselwirkungen nicht abschätzbar waren. Die Bf wurden deshalb rechtskräftig zu Freiheitsstrafen verurteilt. Die Verurteilungen stützen sich auf die §§ 5, 95 AMG (Wortlaut s. Anlage).

Mit ihrer Vb rügten die Bf im wesentlichen einen Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot ("Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde."). Das Merkmal "bedenklich" genüge diesen Anforderungen nicht.

II.

Die Vb hatte keinen Erfolg.

Das Gebot der Bestimmtheit des Gesetzes berücksichtigt auch die Auslegungsfähigkeit und -bedürftigkeit des Rechtsaktes. Gesetze können nicht alle zukünftigen Fälle im Detail voraussehen; sie müssen den Wandel der Verhältnisse aufnehmen und der Besonderheit des Einzelfalles gerecht werden. Generalklauseln oder unbestimmte, wertausfüllungsbedürftige Begriffe sind daher im Strafrecht verfassungsrechtlich dann nicht zu beanstanden, wenn die Norm mit Hilfe der üblichen Auslegungsmethoden eine zuverlässige Grundlage für ihre Auslegung und Anwendung bietet oder wenn sie eine gefestigte Rechtsprechung übernimmt und daraus hinreichende Bestimmtheit gewinnt.

Diesem Maßstab werden die angegriffenen Normen gerecht. Die Anknüpfung des § 5 Abs. 2 AMG an den fortschreitenden Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis nimmt den Wandel der Verhältnisse auf. Zudem darf von Ärzten und Apothekern als Normadressaten erwartet werden, dass sie auf Grund der für ihre Berufspraxis erforderlichen Fachkenntnisse die Bedenklichkeit der von ihnen in den Verkehr gebrachten Arzneimittel nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft erkennen und sich in Zweifelsfragen sachkundig machen.

Das Argument der Bf, der bestimmungsgemäße Gebrauch des Arzneimittels im Sinne des § 5 Abs. 2 AMG sei nicht nach der ärztlichen Verschreibungspraxis zu beurteilen, sondern nach einer abstrakten Indikation, geht an den Gründen der angegriffenen Gerichtsentscheidungen vorbei. Danach haben die Ärzte, die die Schlankheitskapseln verschrieben haben, ohne Rücksicht auf individuelle Befunde eine generalisierende Verschreibungspraxis entwickelt. Diese wurde Grundlage der Zweckbestimmung durch die tatbeteiligten Apotheker. Individualrezeptoren wurden nur vorgetäuscht.

Karlsruhe, den 12. Mai 2000

Anlage zur Pressemitteilung Nr. 63/2000 vom 12. Mai 2000

Arzneimittelgesetz

§ 5 Verbot bedenklicher Arzneimittel

(1) Es ist verboten, bedenkliche Arzneimittel in den Verkehr zu bringen.

(2) Bedenklich sind Arzneimittel, bei denen nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse der begründete Verdacht besteht, dass sie bei bestimmungsgemäßem Gebrauch schädliche Wirkungen haben, die über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinausgehen.

§ 95 Strafvorschriften

(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer

1. entgegen § 5, auch in Verbindung mit § 73 Abs. 4 oder § 73a, Arzneimittel, bei denen begründeter Verdacht auf schädliche Wirkungen besteht, in den Verkehr bringt, 2. ...

(2) Der Versuch ist strafbar.

(3) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter durch eine der in Absatz 1 bezeichneten Handlungen

1. die Gesundheit einer großen Zahl von Menschen gefährdet,

2. einen anderen in die Gefahr des Todes oder einer schweren Schädigung an Körper oder Gesundheit bringt,

3. aus grobem Eigennutz für sich oder einen anderen Vermögensvorteile großen Ausmaßes erlangt oder

4. ....

(4) Handelt der Täter in den Fällen des Absatzes 1 fahrlässig, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe.