Bundesverfassungsgericht

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Information zur mündlichen Verhandlung "Pflegeversicherung"

Pressemitteilung Nr. 83/2000 vom 20. Juni 2000

Im Hinblick auf die am 4. Juli 2000, 10.00 Uhr stattfindende mündliche Verhandlung des Ersten Senats (vgl. Pressemitteilung Nr. 73/2000 vom 26. Mai 2000) wird Folgendes mitgeteilt:

Verhandelt werden sechs Verfassungsbeschwerden (Vb) gegen die gesetzliche Pflegeversicherung. Beim BVerfG sind weitere rund 70 Verfahren zur Verfassungsmäßigkeit von Regelungen der Pflegeversicherung anhängig.

I. Zur Rechtslage

1. Durch das im wesentlichen am 1. Januar 1995 in Kraft getretene Pflegeversicherungsgesetz Sozialgesetzbuch (SGB) XI - ist eine 98% der Bevölkerung umfassende Pflichtversicherung gegen das Risiko der Pflegebedürftigkeit eingeführt worden. Sie ist angelehnt an das bereits vorhandene Doppelsystem von gesetzlicher und privater Krankenversicherung. Es gilt der Grundsatz: Pflegeversicherung folgt Krankenversicherung. Im einzelnen ist die Zuordnung wie folgt geregelt:

  • Wer in der gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversichert ist, ist auch in der sozialen Pflegeversicherung pflichtversichert.
  • Wer in der gesetzlichen Krankenversicherung freiwillig versichert ist, ist ebenfalls in der sozialen Pflegeversicherung pflichtversichert. Er kann aber innerhalb von drei Monaten auf Antrag befreit werden, wenn er einen privaten Pflegeversicherungsvertrag abschließt.
  • Wer in der privaten Krankenversicherung freiwillig versichert ist, ist verpflichtet, einen privaten Pflegeversicherungsvertrag abzuschließen. Er kann nicht freiwillig der sozialen Pflegeversicherung beitreten.
  • Beamte, sonstige Beihilfe- und Heilfürsorgeberechtigte sowie Abgeordnete müssen einen privaten Pflegeversicherungsvertrag abschließen, auch wenn sie nicht privat krankenversichert sind.
  • Wer weder krankenversichert ist noch einen der Sondertatbestände (§ 21 SGB XI) erfüllt, hat keinen Anspruch auf Beitritt zur sozialen Pflegeversicherung oder auf Abschluss eines privaten Pflegeversicherungsvertrages.

Für die Versicherten in der sozialen Pflegeversicherung gelten die Regelungen der gesetzlichen Krankenversicherung über die beitragsfreie Familienversicherung entsprechend. In der privaten Pflegeversicherung ist die Versicherung jedes Ehegatten prämienpflichtig. Kinder sind entsprechend den Regelungen über die Familienversicherung immer prämienfrei mitversichert.

2. Die Finanzierung der Leistungen ist in der sozialen und privaten Pflegeversicherung unterschiedlich geregelt:

a) Die soziale Pflegeversicherung wird durch Beiträge finanziert. Es gelten die beitragsrechtlichen Vorschriften der gesetzlichen Krankenversicherung entsprechend. Die Mitglieder zahlen nach einem gesetzlich festgelegten bundeseinheitlichen Beitragssatz (zur Zeit 1,7%) Beiträge bis zur Beitragsbemessungsgrenze. Bei Arbeitnehmern trägt der Arbeitgeber die Hälfte der Beitragslast (Ausnahme: Bundesland Sachsen). Zum Ausgleich ist mit Ausnahme von Sachsen der Buß- und Bettag als gesetzlicher Feiertag entfallen.

Alle Versicherten (Mitglieder und Familienversicherte) haben die gleichen Leistungsansprüche unabhängig von der Höhe der Beiträge und ihrem Gesundheitszustand bei Eintritt in die Versicherung. Auch die bei Inkrafttreten des Gesetzes bereits Pflegebedürftigen waren vom ersten Tag an versichert. Die soziale Pflegeversicherung ist damit wie die gesetzliche Krankenversicherung in hohem Maße durch einen solidarischen Ausgleich unter den Versicherten gekennzeichnet.

b) In der privaten Pflegeversicherung wird zwar grundsätzlich für jeden Versicherungsnehmer entsprechend dem individuellen Risiko (im wesentlichen dem Alter) eine versicherungsmathematisch errechnete Prämie erhoben. Dieser Grundsatz wird allerdings mehrfach durchbrochen:

  • Die privaten Krankenversicherungen mussten mit Inkrafttreten des SGB XI auch mit solchen Mitgliedern einen Pflegeversicherungsvertrag abschließen, die bereits pflegebedürftig waren.
  • Würden für die so genannten pflegenahen Jahrgänge (ab 60 Jahre) versicherungsmathematisch berechnete Prämien erhoben, so lägen sie über dem Höchstbeitrag in der sozialen Pflegeversicherung. Dies ist jedoch nach dem Gesetz nicht zulässig (§ 110 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe e SGB XI). Um bei dieser Gruppe und erst recht bei den bereits Pflegebedürftigen eine versicherungstechnische Unterdeckung zu vermeiden, wird für deren Ausgleich von allen privat Versicherten ein in der Prämie nicht gesondert ausgewiesener Umlageanteil erhoben.
  • Eine weitere Durchbrechung der Risikoorientierung bei der Prämienbemessung folgt aus teilweise unterschiedlichen Regelungen für die Personengruppe, die bei Inkrafttreten des SGB XI bereits privat krankenversichert war (Bestandsversicherte) und diejenigen, die sich ab diesem Zeitpunkt neu privat krankenversichert haben (Neuversicherte): Bei Bestandsversicherten darf die versicherungsmathematisch errechnete Prämie nicht höher sein als der Höchstbetrag in der sozialen Pflegeversicherung. Bei Neuversicherten kann von Anfang an die zu zahlende Prämie diesen Höchstbeitrag übersteigen. Zudem muss ein Bestandsversicherter für sich und seinen nicht oder nur geringfügig verdienenden Ehepartner maximal 150% des Höchstbetrages (statt maximal 200%) in der sozialen Pflegeversicherung als Prämie bezahlen.

Kinder sind bei Bestands- wie Neuversicherten prämienfrei. Bei Bestands- und Neuversicherten wird eine einheitliche Nettoprämie erhoben. Eine Differenzierung nach dem Geschlecht ist ausgeschlossen.

II. Die Verfassungsbeschwerden

Die am 4. Juli 2000 zu verhandelnden sechs Vb greifen Regelungen der Pflegeversicherung unter verschiedenen Gesichtspunkten an:

Dem Bundesgesetzgeber habe die Gesetzgebungskompetenz für die Einführung einer Volksversicherung jedenfalls für die privat Krankenversicherten gefehlt. Die Verpflichtung, überhaupt eine private Pflegeversicherung abzuschließen, verstoße gegen die Vertragsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und den Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG).

Andere Beschwerdeführer sehen eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes darin, dass ein freiwilliger Beitritt zur sozialen Pflegeversicherung von privat Krankenversicherten nicht möglich ist bzw. dass gar nicht Krankenversicherte keinen Anspruch auf Einbeziehung in die Pflegeversicherung haben.

Die Art der Beitrags- und Prämiengestaltung in der Pflegeversicherung wird unter dem Gesichtspunkt der Ungleichbehandlung sowie der mangelnden Berücksichtigung des Sozialstaatsprinzips und der Erziehungsleistungen von mehreren Bf angegriffen. Insbesondere werde die mangelhafte Berücksichtigung der Kinderzahl bei der Prämiengestaltung in der privaten Pflegeversicherung wie auch der sozialen Pflegeversicherung den verfassungsrechtlichen Anforderungen an einen Familienlastenausgleich nicht gerecht (Art. 6 Abs. 1 GG).

Für verfassungswidrig werden auch die einkommensunabhängigen Prämienzahlungen von bestandsversicherten Geringverdienern in der privaten Pflegeversicherung gehalten.

III.

In der mündlichen Verhandlung werden Prof. Dr. Birg (Universität Bielefeld) zur voraussichtlichen Bevölkerungs- und Gesundheitsentwicklung und Prof. Dr. Schmähl (Universität Bremen) zur prognostizierten Beitragsentwicklung in der sozialen Pflegeversicherung sowie zur eventuell die Pflegeversicherung finanziell entlastenden Wirkung der Pflege durch Angehörige als Sachverständige gehört.

Der Zeitplan für die Verhandlung ist in der Anlage beigefügt.

Karlsruhe, den 20. Juni 2000 - Az. 1 BvR 1629/94 u.a. -