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Entscheidung über die Krankenversicherung der Rentner wird in den nächsten Tagen bekannt gegeben

Pressemitteilung Nr. 99/2000 vom 24. Juli 2000

Der Erste Senat des BVerfG wird in wenigen Tagen seine Entscheidung in den Verfahren über den Zugang zur gesetzlichen Krankenversicherung der Rentner bekannt geben.

I.

Zur Rechtslage

Die Mitgliedschaft der Rentner in der gesetzlichen Krankenversicherung ist seit vielen Jahrzehnten Bestandteil des sozialen Sicherungssystems in Deutschland. Die Zugangsvoraussetzungen zur Krankenversicherung haben sich aber im Lauf der Zeit mehrfach geändert. So wurde 1977 der Grundsatz der Halbbelegung eingeführt. Danach musste der Versicherte mindestens die Hälfte der Zeit von der erstmaligen Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bis zur Stellung des Rentenantrags Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung gewesen sein. Nur dann konnte er auch als Rentner Pflichtmitglied in der Krankenversicherung werden. Mit dem Gesundheits-Reformgesetz von 1988 wurde der Zugang zur Krankenversicherung der Rentner erschwert. Nach dem maßgeblichen § 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB V konnte die erforderliche Vorversicherungszeit nicht mehr durch die Halbbelegung, errechnet am gesamten Erwerbsleben, erreicht werden. Erforderlich war nunmehr, dass der Rentner von dem Zeitraum zwischen Beginn seiner Erwerbstätigkeit und Stellung des Rentenantrags mindestens 9/10 der zweiten Hälfte dieses Zeitrahmens Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung (oder Familienversicherung) war. Aus Gründen des Vertrauensschutzes galt für bestimmte Personen eine Übergangsregelung (Art. 56 Abs. 1 GRG; siehe Anlage), wonach sie bei Rentenantragstellung bis zum 31. Dezember 1993 auch auf Grund der Halbbelegung die Voraussetzungen für die Krankenversicherung der Rentner erfüllen konnten.

Das Gesundheits-Reformgesetz änderte auch die Beitragserhebung der freiwillig versicherten Rentner. Das Gesundheits-Reformgesetz führte für alle freiwillig Versicherten - also auch für die Rentner - die Beitragserhebung nach Leistungsfähigkeit ein. Damit wurden auch Einkünfte, die aus Vermögen anfielen, in die beitragspflichtigen Einnahmen einbezogen. Allerdings wurden den freiwillig Versicherten nach Vollendung des 65. Lebensjahres ein Ausgleich in Form des so genannten Altersprivilegs im Beitragssatz eingeräumt. Sie hatten Beiträge aus Versorgungsbezügen und Arbeitseinkommen (aus selbständiger Erwerbstätigkeit) nur nach dem halben allgemeinen Beitragssatz zu entrichten, wenn sie 9/10 der zweiten Hälfte des Erwerbslebens Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung gewesen waren.

Das in den jetzt zu entscheidenden Verfahren relevante Gesundheitsstrukturgesetz von 1992 (GSG) verschärfte die Voraussetzungen für die Mitgliedschaft in der Krankenversicherung der Rentner erneut. Als Vorversicherungszeiten werden nur noch Zeiten einer Pflichtversicherung bzw. einer Familienversicherung auf Grund einer Pflichtversicherung berücksichtigt. Nach § 5 Abs. 1 Nr. 11 Halbsatz 1 SGB V (Auszug in der Anlage) sind nur noch solche Personen versicherungspflichtig, die die 9/10 Belegung in der zweiten Hälfte der Zeit zwischen Aufnahme der Erwerbstätigkeit und Stellung des Rentenantrages auf Grund einer Pflichtversicherung erreichen.

Auch die erwähnte Übergangsregelung wurde auf diejenigen Personen eingeschränkt, die die bis zum 31. Dezember 1993 als ausreichend geltende halbe Belegung durch Pflichtversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung erreicht hatten. Nur für jene, die bereits eine Rente bezogen oder bis zum 31. Dezember 1992 eine Rente beantragten, galt eine Besitzschutzregelung, die auch die freiwillige Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung berücksichtigte.

II.

Zu den tatsächlichen Auswirkungen

Die beitragsrechtlichen Bestimmungen der gesetzlichen Krankenversicherung belasten die versicherungspflichtigen Rentner und die freiwillig versicherten Rentner unterschiedlich. Pflichtversicherte Rentner zahlen einen prozentual errechneten Beitrag auf ihr Einkommen aus Rente, Versorgungsbezügen und gegebenenfalls Arbeitseinkommen. Von dem auf die Rente entfallenden Beitrag zahlen das Mitglied und der Rentenversicherungsträger je die Hälfte. Der aus betrieblicher Altersversorgung oder Einkommen aus selbständiger Erwerbstätigkeit errechnete Krankenversicherungsbeitrag wird von pflichtversicherten Rentnern nur zur Hälfte erhoben.

Demgegenüber zahlen freiwillig versicherte Rentner einen Beitrag nach ihrem wirtschaftlichen Leistungsvermögen. Sie müssen daher zusätzlich auf Einnahmen aus Vermögen und sonstige Einkünfte den Krankenversicherungsbeitrag abführen. Begrenzt wird dies durch die Beitragsbemessungsgrenze. Das Altersprivileg ist abgeschafft. Der Rentenversicherungsträger zahlt den freiwillig versicherten Rentnern einen aus der Rente errechneten Zuschuss.

Die unterschiedliche Beitragsbelastung kann durch folgendes Beispiel verdeutlicht werden:

Bezieht ein versicherungspflichtiger Rentner monatlich eine Altersrente von 2.000 DM, 500 DM rentenähnliche Bezüge, 1.000 DM Einkommen aus selbständiger Erwerbstätigkeit, 200 DM Zinsen und 800 DM Einnahmen aus Vermietung, insgesamt also Einkünfte in Höhe von 4.500 DM, so liegt bei einem Beitragssatz von 13,6 % der halbe Krankenversicherungsbeitrag aus der Rente, den rentenähnlichen Bezügen und dem Arbeitseinkommen (3.500 DM) bei gerundet 238 DM monatlich. Ist er hingegen freiwilliges Mitglied, so unterliegen seine Gesamteinkünfte von 4.500 DM der Beitragsbemessung. Hieraus hat er den vollen Beitrag zur Krankenversicherung zu zahlen; das ist ein Krankenkassenbeitrag von monatlich 612 DM. Zu diesem Betrag zahlt der Rentenversicherungsträger den Zuschuss in Höhe von rund 136 DM. Die effektive Beitragsbelastung liegt mit rund 476 DM etwa doppelt so hoch wie die des Pflichtversicherten.

Zu den Ausgangsverfahren

Die Entscheidung des BVerfG betrifft insgesamt sechs Vorlagen des Bundessozialgerichts (BSG). Diesen Verfahren lagen jeweils vergleichbare Konstellationen zugrunde: Die Kläger der Ausgangsverfahren hatten regelmäßig in den vierziger oder fünfziger Jahren ihre Erwerbstätigkeit aufgenommen und waren zunächst Pflichtmitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung geworden. Nach mehreren Jahren der Pflichtmitgliedschaft hatten sie auf Grund ihres Arbeitseinkommens die Beitragsbemessungsgrenze überschritten, sich aber sämtlich in den darauf folgenden Jahrzehnten durchgehend freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung weiterversichert. Allen Ausgangsklägern war die Pflichtmitgliedschaft in der Krankenversicherung der Rentner verweigert worden, da sie nicht während der zweiten Hälfte ihres Arbeitslebens zu 9/10 in der gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversichert gewesen seien.

Das BSG hält die hierfür maßgeblichen Vorschriften des § 5 Abs. 1 Nr. 11 Halbsatz 1 SGB V und des Art. 56 Abs. 1 Satz 1 des Gesundheitsreformgesetzes i.V.m. Art. 56 Abs. 3 Halbsatz 1 Gesundheitsreformgesetz jeweils in der Fassung des GSG wegen Verstoßes gegen den Gleichheitsgrundsatz für verfassungswidrig und hat diese Normen dem BVerfG zur Prüfung vorgelegt. Die Ungleichbehandlung zwischen jenen Rentnern, die als ehemals freiwillig Versicherte mit einem Arbeitsentgelt über der Jahresarbeitsentgeltgrenze Krankenversicherungsbeiträge gezahlt hätten, gegenüber jenen Rentnern, die durchgehend versicherungspflichtig gewesen seien, sei mit Art. 3 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren.

Karlsruhe, den 24. Juli 2000

Anlage zur Pressemitteilung Nr. 99/2000 vom 24. Juli 2000

§ 5 Abs. 1 Nr. 11 Halbsatz 1 SGB V

Versicherungspflichtig sind ... Personen, die die Voraussetzungen für den Anspruch auf eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung erfüllen und diese Rente beantragt haben, wenn sie seit der erstmaligen Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bis zur Stellung des Rentenantrags mindestens neun Zehntel der zweiten Hälfte des Zeitraums auf Grund einer Pflichtversicherung Mitglied oder auf Grund einer Pflichtversicherung nach § 10 versichert waren ...

Art. 56 Abs. 1 und 3 GRG

(1) Personen, die bis zum 31. Dezember 1993 eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung beantragen und die Voraussetzungen für den Bezug der Rente, nicht jedoch die Voraussetzungen für die Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 11 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch erfüllen, werden versichert, wenn sie oder die Person, aus deren Versicherung sie ihren Rentenanspruch ableiten, seit der erstmaligen Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, jedoch frühestens seit dem 1. Januar 1950, bis zur Stellung des Rentenantrags mindestens die Hälfte der Zeit Mitglied einer Krankenkasse oder mit einem Mitglied verheiratet und nicht mehr als nur geringfügig beschäftigt oder geringfügig selbständig tätig waren. Erfüllen sie die Voraussetzungen für den Bezug einer Rente nicht, gelten sie bis zu dem Tag als Mitglieder, an dem der Rentenantrag zurückgenommen oder die Ablehnung des Rentenantrags unanfechtbar wird.

(2) ...

(3) Für die nach Absatz 1 oder 2 Versicherten gelten die Voraussetzungen nach § 5 Abs. 1 Nr. 11 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch als erfüllt, wenn die in Absatz 1 genannten Versicherungszeiten auf Grund einer Pflichtversicherung zustande gekommen sind; § 6 Abs. 3 Satz 1 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch gilt nicht für die nach Absatz 2 Versicherten.