Bundesverfassungsgericht

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Zur teilweisen Aufhebung eines Versammlungsverbots in Hamburg am 20. August 2000

Pressemitteilung Nr. 112/2000 vom 24. August 2000

Beschluss vom 18. August 2000
1 BvQ 23/00

Die 1. Kammer des Ersten Senats des BVerfG hat am 18. August 2000 im Wege der einstweiligen Anordnung eine Kundgebung von Rechtsextremisten am 20. August in Hamburg unter Auflagen ermöglicht. Die Polizei hatte zuvor die für den 19. August und hilfsweise für den 20. August angemeldete Demonstration verboten. Verwaltungsgericht und Oberverwaltungsgericht Hamburg hatten das Verbot bestätigt.

In der jetzt nachgereichten Begründung stellt die Kammer sinngemäß folgendes fest:

Eine Verfassungsbeschwerde (Vb) des Anmelders der geplanten Demonstration (Antragsteller - Ast.) ist weder unzulässig noch von vornherein unbegründet. Die demnach vorzunehmende Folgenabwägung geht hier in Teilen zugunsten des Antragstellers aus.

Dabei ist zu beachten, dass das BVerfG im Verfahren der einstweiligen Anordnung regelmäßig nicht in der Lage ist, selbst den Sachverhalt aufzuklären und zu würdigen. Schon aus Zeitgründen scheidet es in Fällen wie diesem aus, behördliche und fachgerichtliche Akten heranzuziehen und Stellungnahmen einzuholen. In diesen Fällen hat das BVerfG seiner Abwägung in aller Regel die Tatsachenfeststellungen und - würdigungen in den angegriffenen Entscheidungen zugrunde zu legen. Anders ist es nur bei offensichtlich fehlerhafter Tatsachenfeststellung oder wenn die Tatsachenwürdigung unter Berücksichtigung der betroffenen Grundrechtsnorm offensichtlich nicht trägt. Dies ist insbesondere der Fall, wenn die Gefahrenprognose für eine Demonstration auf Umstände gestützt wird, deren Berücksichtigung dem Schutzgehalt des Art. 8 GG offensichtlich widerspricht.

Hier befürchtet die Versammlungsbehörde eine Umwidmung der Veranstaltung zu einer Rudolf Heß-Gedenkveranstaltung und damit verbunden die Begehung von Straftaten, wie sie bei solchen Veranstaltungen erfahrungsgemäß vorkommen. Ferner sieht sie aufgrund der Ortswahl die öffentliche Ordnung gefährdet. Schließlich rechnet sie mit gewalttätigen Gegendemonstrationen und beruft sich für ihr Verbot hilfsweise auf polizeilichen Notstand.

Diese Gesichtspunkte tragen den Sofortvollzug des Verbots nicht in vollem Ausmaß.

Die Folgenabwägung kann nicht auf die Annahme gestützt werden, von der geplanten Versammlung ginge das Risiko von Gewalttätigkeiten aus.

Hiermit ist das Verbot nämlich nicht begründet worden.

1. Die Folgenabwägung kann auch nicht darauf gestützt werden, dass es sich bei der Anmeldung um die Tarnung einer in Wahrheit geplanten oder zu erwartenden Rudolf Heß-Gedenkveranstaltung handelt. Denn die Behörde hat zwar plausible Anhaltspunkte dafür benannt, dass die Möglichkeit einer solchen Umwidmung besteht. Sie setzt sich aber nicht mit den ebenfalls vorhandenen Gegenindizien auseinander:

Die geplante Versammlung sollte den Titel tragen: "Gegen Lügen und Hetze der BILD Zeitung-Enteignet Springer". Der Ast. hat sie am 3. August 2000 angemeldet. An diesem Tag war ein Artikel in der BILD Zeitung erschienen, der sich kritisch auch mit dem Ast. auseinandersetzte. Die geplante Route der Demonstration führte am Sitz des Axel-Springer-Verlages vorbei; dort sollte die "Hauptkundgebung" stattfinden. Schließlich hat der Ast. in einem Schreiben vom 3. August 2000 an seine Anhänger ausdrücklich darum gebeten: "von Meinungsbekundungen zum Todestag von Rudolf Heß Abstand zu nehmen". Diese Umstände schließen allerdings nicht zwingend aus, dass damit ein anderes Kundgebungsthema getarnt werden soll. Auch sind Veranstaltungen aus der rechtsextremistischen Szene schon häufiger unter einem anderen Thema angekündigt worden, als es später umgesetzt wurde. Dies gilt allerdings nicht generell, so dass pauschale Deutungen ausscheiden. Deshalb kann ein Versammlungsverbot mit der Begründung, es handele sich um eine getarnte Rudolf Heß-Gedenkveranstaltung, nur ausgesprochen werden, wenn die Behörde konkrete, auf diese Versammlung bezogene Indizien der Tarnabsicht hat und unter Berücksichtigung möglicher Gegenindizien begründet, warum diesen kein maßgebendes Gewicht beizumessen ist. Die Prüfung der Voraussetzungen eines Versammlungsverbots hat von den Angaben in der Anmeldung auszugehen, es sei denn, es dränge sich auch bei grundrechtskonformer Deutung des Vorhabens der Eindruck auf, in Wahrheit sei ein anderer Inhalt geplant und der Veranstalter werde trotz der gesetzlichen Strafdrohung eine Versammlung anderen Inhalts und damit anderen Gefahrenpotentials durchführen als angemeldet.

Diesen Anforderungen sind die Behörde und die Fachgerichte nicht gerecht geworden. Sie haben sich mit den Gegenindizien nicht auseinandergesetzt. Das Verwaltungsgericht hat ausgeführt, dass es dem Ast. seine verbale Distanzierung von einer Rudolf Heß-Veranstaltung nicht zu glauben vermöge; sein persönlicher Werdegang und die Aktivitäten der rechtsextremistischen Szene sprächen dagegen. Hiermit verkennt das Verwaltungsgericht das Verhältnis zwischen der grundrechtlichen Garantie und der Beschränkungsmöglichkeit. Die Beweislast für die Tarnung eines das Verbot rechtfertigenden Inhalts und damit eine täuschende Anmeldung liegt bei der Verwaltung. Die Tatsachenfeststellung fehlender Glaubwürdigkeit bedarf auch im Eilverfahren konkreter Anhaltspunkte, z.B. durch Hinweis auf frühere Täuschungen durch den Ast. Daran fehlt es.

Die von der Behörde angenommenen Gefahren für die öffentliche Ordnung, die sie bei einer Rudolf Heß-Gedenkveranstaltung erwartet, haben daher ebenfalls außer Betracht zu bleiben. Es kann deshalb dahinstehen, inwieweit ein Versammlungsverbot auf ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung gestützt werden kann.

2. Die Kammer kann in diesem Eilverfahren die Angaben der Versammlungsbehörde über Zahl und Gewaltpotential der Gegendemonstranten sowie über die erforderlichen polizeilichen Gegenmaßnahmen und die dafür verfügbaren Mittel nicht überprüfen. Die Annahmen der Behörde über die Gefahren der Verletzung von Leib und Leben von Beamten, Passanten, Reisenden und Demonstranten und über die Beschädigung von Sachen rechtfertigen den Schluss auf eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit. Auch die Angaben über die personell und sächlichen Möglichkeiten der Polizei können als Grundlage der Folgenabwägung herangezogen werden. Dies gilt jedoch nicht für Gefahren, deren Eintritt bei Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ausgeschlossen werden kann. Insoweit ist die Gefahrenlage am Sonnabend, dem 19. August offensichtlich in nicht unerheblichem Maße eine teilweise andere als am Sonntag, den 20. August. Die Gefahren können bei einer stationären Durchführung der Versammlung am 20. August sowie durch weitere Auflagen soweit verringert werden, dass eine Versammlungsverbot wegen polizeilichen Notstands ausscheidet:

Es liegt auf der Hand, dass die polizeiliche Lage bei einer Demonstration durch die Innenstadt während der Ladenöffnungszeiten eine andere ist als an einem Sonntag. Gleichermaßen unterscheidet sich eine stationäre, auf einem abgrenzbaren Platz festgelegte und auf zwei Stunden begrenzte Versammlung von einem vierstündigen, sich über eine Strecke von knapp drei Kilometern erstreckenden Aufzug.

Art. 8 GG erlaubt Beschränkungen aus dem Gesichtspunkt polizeilichen Notstands. Der Träger des Grundrechts hat dann auf die Verwirklichung der Versammlungsfreiheit im Interesse des Schutzes anderer zu verzichten. Ist der polizeiliche Notstand in der Gefahr gewalttätiger Gegenaktionen begründet, kann die Versammlung ggf. auf einen anderen Zeitpunkt verschoben werden. Ist aber zu erwarten, dass die Durchführung der Versammlung zu anderen Zeitpunkten ebenfalls zu entsprechenden Gegenaktionen und damit immer wieder zu Situationen polizeilichen Notstands führen wird, besteht das Risiko, dass der davon betroffene Grundrechtsträger auf Dauer an der Verwirklichung seines Freiheitsrechts gehindert wird. Diese Situation kann entstehen, wenn - wie gegenwärtig in Hamburg - jede Absicht zur Durchführung rechtsextremistischer Demonstrationen mit Gegenaktionen gewaltbereiter Personen des linken politischen Spektrums beantwortet wird. Das Grundgesetz verwirklicht zwar eine auf die Abwehr von Gefahren für den Rechtsstaat und die Demokratie gerichtete Ordnung; es fordert hierfür aber rechtsstaatliche Mittel. Gewalt von "links" ist keine verfassungsrechtlich hinnehmbare Antwort auf eine Bedrohung der rechtsstaatlichen Ordnung von "rechts". Drohen Gewalttaten als Gegenreaktion auf Versammlungen, ist es Aufgabe der zum Schutz der rechtsstaatlichen Ordnung berufenen Polizei, in unparteiischer Weise auf die Verwirklichung des Versammlungsrechts hinzuwirken. Sie hat deshalb auch zu prüfen, ob ein polizeilicher Notstand durch Modifikation der Versammlungsmodalitäten entfallen kann, ohne dadurch den konkreten Zweck der Versammlung zu vereiteln. Ist der Veranstalter bereit, die Versammlungsmodalitäten zu ändern, so ist die Versammlungsbehörde im Rahmen ihrer Kooperationspflicht gehalten, solchen Möglichkeiten nachzugehen und nach Wegen zu suchen, die Versammlung gegen Gefahren zu schützen, die nicht von ihr selbst ausgehen. Erklärt der Veranstalter dabei einen Versammlungsort wegen seines besonders nahen Bezugs zum Versammlungsthema für unverzichtbar, darf diese Alternative nur ausgeschlossen werden, wenn es keine polizeilich vertretbare Möglichkeit zur Vermeidung einer Lage polizeilichen Notstands gibt.

Auch das BVerfG hat solche Möglichkeiten im Rahmen der Folgenabwägung im Eilverfahren in Betracht zu ziehen. Es darf Folgen nicht berücksichtigen, deren Eintritt bei entsprechenden hoheitlichen Vorgaben vermeidbar ist.

3. Die Fachgerichte können sich in Fällen, in denen die sofortige Vollziehung eines Versammlungsverbots Art. 8 GG verletzt, nicht auf die Alternative "Anordnung der aufschiebenden Wirkung" oder "Bestätigung des Verbots" beschränken. Die Gerichte haben der Versammlungsbehörde den Erlass notwendiger Auflagen zum Ausschluss von Gefahren aufzugeben, ggf. die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs selbst mit Auflagen zu versehen. Von entsprechenden Entscheidungen zur Sicherung der Verhältnismäßigkeit dürfen die Gerichte nicht mit Rücksicht darauf absehen, dass sie ohnehin die Einlegung einer Vb erwarten.

Diese Aufgabe haben die Fachgerichte im vorliegenden Fall nicht wahrgenommen. Grundsätzlich ist es nicht die Angelegenheit des BVerfG, in solchen Fällen seinerseits Auflagen anzuordnen. Hält es Auflagen durch die Versammlungsbehörde oder die Gerichte für erforderlich, teilt es dies in den Gründen seines Beschlusses mit. Im vorliegenden Fall verbindet das BVerfG angesichts der offensichtlichen Fehlerhaftigkeit der Vorentscheidungen ausnahmsweise die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs mit den im Tenor aufgeführten inhaltlichen Maßgaben.

Karlsruhe, den 24. August 2000