Bundesverfassungsgericht

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Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen Abschiebungshaft

Pressemitteilung Nr. 2/2001 vom 4. Januar 2001

Beschluss vom 15. Dezember 2000
2 BvR 347/00

Die 2. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG hat einem türkischen Asylbewerber (Beschwerdeführer; Bf) Recht gegeben, der sich mit seiner Verfassungsbeschwerde (Vb) gegen die Anordnung von Abschiebungshaft gewandt hat.

1. Der Asylantrag des Bf war 1994 abgelehnt worden, eine Klage gegen die Ablehnung ist bei dem Verwaltungsgericht (VG) Chemnitz anhängig. Auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung des Bf wies die Ausländerbehörde in Niedersachsen ihn im November 1999 aus Deutschland aus und ordnete seine Abschiebung in die Türkei zum Zeitpunkt der Entlassung aus der Strafhaft an. Gegen die Anordnung der sofortigen Vollziehung dieser Maßnahmen beantragte der Bf beim VG Oldenburg vorläufigen Rechtsschutz. Im Dezember 1999 wurde der Bf in Abschiebungshaft genommen, weil nach Auffassung des Amtsgerichts Vechta der begründete Verdacht bestand, dass er nach seiner Entlassung aus der Strafhaft untertauchen und sich der Abschiebung entziehen werde.

Bereits im Juli 1999 hatte das VG Chemnitz im Asylverfahren einen Beweisbeschluss erlassen. Dabei geht es um die Frage, ob dem Bf in der Türkei gerade aus den Gründen des Strafverfahrens politische Verfolgung droht. Das VG Chemnitz forderte eine Auskunft beim Auswärtigen Amt darüber an, ob in der Türkei gegen den Bf ermittelt werde.

Der Bf teilte dies dem Landgericht (LG) Oldenburg im Rahmen seiner sofortigen Beschwerde gegen die Anordnung der Abschiebungshaft mit. Das LG Oldenburg wies die sofortige Beschwerde mit Beschluss vom 26. Januar 2000 zurück. Hiergegen legte der Bf sofortige weitere Beschwerde beim Oberlandesgericht (OLG) Oldenburg ein.

Am 16. Februar 2000 ordnete das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht (OVG) die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Bf gegen die Ausweisungsverfügung bis zur Entscheidung im Widerspruchsverfahren an, soweit die Abschiebung des Bf in die Türkei angeordnet worden ist. Dies begründete das OVG im Wesentlichen damit, es bestehe nach den derzeitigen Erkenntnissen die konkrete Gefahr, dass der Bf bei einer Rückkehr in die Türkei wegen des Verdachts, die PKK unterstützt zu haben, von den türkischen Sicherheitsbehörden verhört und dabei gefoltert werde. Die vom VG Chemnitz angeforderte Auskunft des Auswärtigen Amtes wie auch die Entscheidung des VG Chemnitz selbst im Asylverfahren lägen noch nicht vor; beide seien bei der Entscheidung über den Widerspruch zu berücksichtigen. Über die Abschiebung des Bf in die Türkei könne daher zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht entschieden werden.

Der Bf teilte dies dem OLG Oldenburg zur Begründung seiner sofortigen weiteren Beschwerde gegen die Abschiebungshaft mit. Mit Beschluss vom 21. Februar 2000 wies das OLG Oldenburg diese zurück, da die in § 57 Abs. 2 Nr. 5 AuslG vorgesehenen Gründe zur Anordnung der Abschiebungshaft vorlägen. Die Anordnung der Abschiebungshaft setze nicht voraus, dass die Ausreisepflicht bereits vollziehbar sei.

2. Die 2. Kammer des Zweiten Senats hat die Entscheidung des OLG Oldenburg aufgehoben, da sie den Bf in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG verletzt. Zur Begründung führt die Kammer im Wesentlichen aus:

Das Freiheitsgrundrecht verpflichtet in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip die Gerichte zu einer umfassenden Prüfung der Voraussetzungen für eine Anordnung von Abschiebungshaft. Im Rechtsmittelverfahren hat das zuständige Gericht insbesondere zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Aufrechterhaltung der Haft noch vorliegen oder nachträglich entfallen sind. Dies ist in der Regel zu bejahen, wenn durch eine verwaltungsgerichtliche Entscheidung die Ausreisepflicht des Inhaftierten aufgehoben ist oder seine Abschiebung für längere Zeit nicht erfolgen kann. Ist die Abschiebung nicht durchführbar und die Freiheitsentziehung deshalb nicht erforderlich, verbietet der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz die Anordnung oder Aufrechterhaltung von Abschiebungshaft. Das öffentliche Interesse an der Sicherung einer Abschiebung und der Freiheitsanspruch des Betroffenen sind gegeneinander abzuwägen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem öffentlichen Interesse mit zunehmender Dauer der Haft vergrößern wird.

Einfachrechtlich findet der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Ausdruck in der Regelung des § 57 Abs. 2 Satz 4 AuslG, wonach die Abschiebungshaft unzulässig ist, wenn feststeht, dass aus Gründen, die der Ausländer nicht zu vertreten hat, die Abschiebung nicht innerhalb der nächsten drei Monate durchgeführt werden kann.

Das OLG Oldenburg hat die dargestellten verfassungsrechtlichen Maßstäbe nicht beachtet. Mit § 57 Abs. 2 Satz 4 AuslG setzt es sich nicht auseinander. Es ist auch nicht zu erkennen, dass es die verfassungsrechtlich gebotene Prüfung vorgenommen hat, ob und inwieweit der Beschluss des Niedersächsischen OVG vom 16. Februar 2000 dauerhaft oder doch auf längere Zeit der Abschiebung entgegensteht. Zwar kann bei einer derartigen, nur vorläufigen verwaltungsgerichtlichen Entscheidung das zuständige Haftgericht gleichwohl feststellen, dass die Undurchführbarkeit der Abschiebung nicht feststeht. Dies setzt jedoch voraus, dass konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Abschiebung, die auf Grund der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes durch die Verwaltungsgerichte ausgeschlossen worden ist, gerade in der Dreimonatsfrist des § 57 Abs. 2 Satz 4 AuslG wieder möglich werden könnte. Solche konkreten Anhaltspunkte hat das OLG hier nicht untersucht, sie sind auch nicht zu erkennen: Es war völlig ungewiss, wann der Widerspruchsbescheid erlassen werden würde. Diesen Zeitpunkt hat das Niedersächsische OVG als Endpunkt der aufschiebenden Wirkung bestimmt. Auch die Entscheidung des VG Chemnitz und die Auskunft des Auswärtigen Amtes, die die Widerspruchsbehörde bei ihrer Entscheidung entsprechend der vom OVG geäußerten Erwartung würde berücksichtigen müssen, lagen noch nicht vor. Bei dieser Sachlage, deren - verfassungsrechtlich gebotene - Ermittlung auch dem OLG ohne Weiteres möglich gewesen wäre, durfte dieses von Verfassungs wegen nicht davon ausgehen, die Undurchführbarkeit der Abschiebung des Bf habe nicht festgestanden. Auch im Übrigen hat das OLG keine Erwägungen zur Frage der Verhältnismäßigkeit angestellt.

Karlsruhe, den 4. Januar 2001