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Zu Sozialhilfeleistungen bei räumlich nicht beschränkter Aufenthaltsbefugnis

Pressemitteilung Nr. 31/2001 vom 13. März 2001

Beschluss vom 09. Februar 2001
1 BvR 781/98

Die 1. Kammer des Ersten Senats des BVerfG hat eine Verfassungsbeschwerde (Vb) nicht zur Entscheidung angenommen, die die Versagung von Hilfe zum Lebensunterhalt gegenüber Ausländern mit einer Aufenthaltsbefugnis betrifft.

1. Nach § 120 Abs. 5 Satz 2 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) haben Ausländer, die im Besitz einer räumlich nicht beschränkten Aufenthaltsbefugnis sind, außerhalb des Bundeslandes, in dem diese erteilt worden ist, nur Anspruch auf die nach den Umständen unabweisbar gebotene Hilfe.

Die Bf hatten in Niedersachsen eine derartige Aufenthaltsbefugnis erhalten. Diese wurde nach ihrem Umzug nach Berlin vom dort zuständigen Landeseinwohneramt verlängert. Zunächst erhielten die Bf im Bezirksamt Wedding Sozialhilfe. Nach einem Umzug innerhalb der Stadt stellte das nunmehr zuständige Bezirksamt Tiergarten die laufende Hilfe zum Lebensunterhalt ein, weil die Bf sich außerhalb des Bundeslandes aufhielten, in dem die Aufenthaltsbefugnis erteilt worden sei.

Im fachgerichtlichen Eilverfahren blieben die Bf erfolglos. Auf die Verlängerung der Aufenthaltsbefugnis durch das Land Berlin komme es nicht an. Nur die Anknüpfung an die erstmalige Ausstellung der Aufenthaltsbefugnis trage dem Regelungszweck hinreichend Rechnung, eine Verlagerung von Sozialhilfelasten in andere Bundesländer dauerhaft zu verhindern.

Das BVerfG hat mit Beschluss vom 1. Oktober 1998 auf den Antrag der Bf eine einstweilige Anordnung erlassen, mit dem das Land Berlin verpflichtet worden ist, für die Dauer des Vb-Verfahrens Hilfe zum Lebensunterhalt zu gewähren. Die einstweilige Anordnung ist mehrfach verlängert worden.

2. Mit Beschluss vom 9. Februar 2001 hat die 1. Kammer des Ersten Senats nunmehr die Vb nicht zur Entscheidung angenommen; die einstweilige Anordnung erledigt sich damit. Zur Begründung führt die Kammer im Wesentlichen aus:

Die Vb ist unbegründet. Die Auslegung des § 120 Abs. 5 Satz 2 BSHG durch die Verwaltungsgerichte ist nicht willkürlich. Die Ansicht, § 120 Abs. 5 Satz 2 BSHG verweise die Bf auf den Ort der erstmaligen Erteilung der Aufenthaltsbefugnis, erscheint ohne Weiteres vertretbar. Sie ist nachvollziehbar begründet.

Das Willkürverbot ist auch nicht deshalb verletzt, weil diese Rechtsauffassung dazu führt, dass die Bf trotz ihrer räumlich nicht beschränkten Aufenthaltsbefugnis ihren Lebensmittelpunkt in Niedersachsen beibehalten müssen, um ihren Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt aufrecht zu erhalten. Die Regelung steht zwar faktisch dem Umzug in ein anderes Bundesland entgegen. Die Betroffenen sind aber sozialhilferechtlich nicht gehindert, innerhalb des Bundeslandes umzuziehen, welches die Aufenthaltsbefugnis erstmals erteilt hat.

Angesichts dessen ist es nicht willkürlich, der mit der Regelung des § 120 Abs. 5 Satz 2 BSHG verfolgten Zielsetzung, eine Verlagerung von Sozialhilfelasten in andere Bundesländer auszuschließen, Vorrang vor dem Interesse an einem bundesweit nicht beschränkten Sozialhilfebezug einzuräumen. So werden die dauerhaft hohen Sozialhilfeleistungen auf die einzelnen Bundesländer verteilt. Außerdem wird die missbräuchliche mehrfache Inanspruchnahme von Sozialhilfe erschwert und die Integration der Betroffenen erleichtert. Hierbei handelt es sich um hinreichende, dem Gemeinwohl dienende Anliegen.

Es ist auch nicht ersichtlich, dass bei der Auslegung des § 120 Abs. 5 Satz 2 BSHG völkerrechtliche Regelungen in einer gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßenden Weise nicht beachtet oder fehlerhaft angewendet worden sind. Art. 23 und 26 des Genfer Abkommens über die Rechtstellung der Flüchtlinge und Art. 23 und 26 des Übereinkommens über die Rechtstellung der Staatenlosen stehen einfachen Bundesgesetzen gleich. Diese Bestimmungen verpflichten die Vertragsstaaten, den Flüchtlingen und Staatenlosen, die sich rechtmäßig in ihrem Staatsgebiet aufhalten, auf dem Gebiet der öffentlichen Fürsorge sowie sonstigen Hilfe- und Unterstützungsleistungen die gleiche Behandlung wie ihren eigenen Staatsangehörigen zu gewähren und ihnen das Recht auf freie Wahl des Aufenthaltsortes einzuräumen. Ihre Anwendung und Auslegung als Völkervertragsrecht ist Aufgabe der Fachgerichte, die hier keiner anderen verfassungsgerichtlichen Kontrolle als bei der Anwendung einfachen Rechts unterliegen. Das BVerfG prüft nur, ob die Fachgerichte gegen Verfassungsrecht verstoßen haben. Dies ist erst dann der Fall, wenn ein Fehler sichtbar wird, der auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts beruht oder wenn die fehlerhafte Rechtsanwendung bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist. Hier sind jedoch Anhaltspunkte für die unhaltbare Nichtbeachtung einer offensichtlich einschlägigen völkerrechtlichen Norm weder aufgezeigt worden noch erkennbar.

Die angegriffenen Entscheidungen verletzen auch nicht das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit aus Art. 2 Abs. 1 GG, welches die freie Wahl des Aufenthaltsortes und des Wohnsitzes in der Bundesrepublik Deutschland einschließt. Durch § 120 Abs. 5 Satz 2 BSHG wird dieses Grundrecht verfassungskonform beschränkt. Wie dargelegt, ist es ein legitimes Ziel des Gesetzgebers, die für Ausländer aufzuwendende Sozialhilfe unter den einzelnen Bundesländern angemessen zu verteilen. Hierzu ist die Regelung des § 120 Abs. 5 Satz 2 BSHG geeignet und auch erforderlich. Die dem Gesetzgeber offen stehende Alternative, den räumlichen Geltungsbereich von Aufenthaltsbefugnissen zu beschränken, hätte einen weitaus stärkeren Eingriff in die Bewegungsfreiheit der Beteiligten zur Folge gehabt. Durch eine Ausgleichsregelung zwischen den Bundesländern wäre es zwar möglich, eine belastungsgerechte Verteilung der Sozialhilfeleistungen zu erzielen. Mit ihr ließe sich aber nicht der missbräuchlichen Inanspruchnahme von Sozialhilfe entgegenwirken, die ebenfalls Zweck der gesetzlichen Regelung ist. Zudem hätte eine solche Regelung zusätzlichen Verwaltungsaufwand zur Folge.

Die angegriffene Regelung ist auch zumutbar. Einzelnen Härtefällen kann dadurch Rechnung getragen werden, dass Hilfe zum Lebensunterhalt als unabweisbar gebotene Hilfe erbracht wird.

Die Kammer führt weiter aus, dass die Bf sich nicht auf Vertrauensschutz berufen können. Der einstweiligen Anordnung des BVerfG vom Oktober 1998 liegt lediglich eine Abwägung der betroffenen Interessen zu Grunde. Sie lässt die Frage offen, ob die Vb zulässig und begründet ist.

Karlsruhe, den 13. März 2001