Bundesverfassungsgericht

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Vorlage des LG Potsdam zur Wehrpflicht unzulässig

Pressemitteilung Nr. 45/2002 vom 10. April 2002

Beschluss vom 20. Februar 2002
2 BvL 5/99

Mit Beschluss vom 20. Februar 2002 hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts einen Vorlagebeschluss des Landgerichts (LG) Potsdam zur Verfassungsmäßigkeit der allgemeinen Wehrpflicht und der Strafbarkeit der Dienstflucht für unzulässig erklärt.

I. Das LG Potsdam hat den Vorlagebeschluss im Rahmen eines strafrechtlichen Berufungsverfahrens gefasst. Der Angeklagte erschien nicht zum Zivildienst, obwohl ihm ein Einberufungsbescheid zugestellt worden war. Das Amtsgericht verurteilte ihn wegen Dienstflucht. Das vorlegende LG ist der Auffassung, dass die allgemeine Wehrpflicht und die zu ihrer zwangsweisen Durchsetzung geschaffenen Strafnormen jedenfalls unter den veränderten politischen Bedingungen nicht mehr mit dem Grundgesetz vereinbar sind.

II. Wie der Zweite Senat ausführt, erfüllt der Vorlagebeschluss nicht die Zulässigkeitsvoraussetzungen unter denen das BVerfG die Frage beantworten kann, ob eine bestimmte Norm mit dem Grundgesetz vereinbar ist:

1. Nach ständiger Rechtsprechung setzt eine zulässige Richtervorlage voraus, dass das Gericht darlegt, dass und inwiefern die zur Kontrolle vorgelegte Norm für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Gerichtsverfahrens von ausschlaggebender Bedeutung ist. Der Vorlagebeschluss des LG Potsdam lässt nicht erkennen, dass der Angeklagte freigesprochen werden muss, wenn - wie das LG Potsdam meint - die Wehrpflicht zu einem von ihm nicht näher definierten Zeitpunkt nach der Überwindung der Teilung Europas verfassungswidrig geworden wäre. Das LG geht offenbar davon aus, dass eine Verpflichtung zum Zivildienst sich allein aus dem Gesetz ergeben könne. In der Literatur wird hingegen überwiegend die Auffassung vertreten, dass die Verpflichtung zum Zivildienst durch einen wirksamen und vollziehbaren Einberufungsbescheid begründet wird. Mit der Diskussion in Literatur und Rechtsprechung über diese Frage hätte sich das LG auseinander setzen müssen. Es hätte prüfen müssen, ob ein rechtmäßiger Einberufungsbescheid vorliegt. Das hierfür maßgebliche Datum ist der 1. September 1993, der im Einberufungsbescheid festgesetzte Gestellungszeitpunkt. Das LG legt nicht dar, dass die allgemeine Wehrpflicht bereits in diesem Zeitpunkt verfassungswidrig gewesen sei. Selbst wenn die Verpflichtung zum Zivildienst neben der Einberufung auch das Bestehen der gesetzlichen Wehrpflicht voraussetzte, hätte das LG darlegen müssen, welcher Zeitpunkt für die Prüfung der Frage der Verfassungsmäßigkeit der Wehrpflicht maßgeblich sei, und dass die Wehrpflicht bereits in diesem Zeitpunkt nicht mehr mit dem Grundgesetz vereinbar gewesen sei. In seinem Vorlagebeschluss vom März 1999 führt das Gericht lediglich aus, dass die strafbewehrte Aufrechterhaltung einer allgemeinen Wehrpflicht "jedenfalls unter den gegenwärtigen politischen Bedingungen" nicht mehr verfassungsgemäß sei; "unter den heutigen Bedingungen" liege ein unverhältnismäßiger Eingriff in die Grundrechte der Wehrpflichtigen vor. Es führt weiter aus, spätestens mit dem Abzug der letzten russischen Truppen im August 1994 bestehe ein Konsens darüber, dass die Bundesrepublik Deutschland nicht mehr einer existenzgefährdenden Bedrohung ausgesetzt sei. Die Argumentation des LG scheint darauf zu zielen, dass der Angeklagte freizusprechen sei, wenn die allgemeine Wehrpflicht im Zeitpunkt seiner strafgerichtlichen Entscheidung mit dem Grundgesetz nicht mehr vereinbar wäre. Die Strafbarkeit eines Tuns richtet sich jedoch grundsätzlich nach dem Zeitpunkt der Tat, nicht dem des Urteils. Dass die allgemeine Wehrpflicht bereits in dem in Betracht kommenden Tatzeitraum von September 1993 bis November 1994 verfassungswidrig gewesen sei, geht aus dem Vorlagebeschluss nicht hervor.

2. Da das BVerfG die Vereinbarkeit der allgemeinen Wehrpflicht mit dem Grundgesetz bereits in ständiger Rechtsprechung bejaht hat, sind an die Begründung einer erneuten Vorlage gesteigerte Anforderungen zu stellen. Das vorlegende Gericht muss von den Entscheidungen des BVerfG ausgehen und darlegen, inwiefern sich die für die verfassungsrechtliche Beurteilung maßgebliche Lage verändert haben soll. Auch diesen Anforderungen genügt die Vorlage nicht. Das LG setzt sich schon mit der Rechtsansicht des BVerfG, dass die allgemeine Wehrpflicht verfassungsrechtlich verankert und daher nicht an dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu messen ist, nicht auseinander. Es lässt außer Acht, dass der Verfassungsgeber die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht im Gegensatz zu anderen im Grundgesetz geregelten Dienstpflichten nicht von weiteren Voraussetzungen, insbesondere nicht vom Vorliegen einer bestimmten sicherheitspolitischen Lage abhängig gemacht hat. Zudem übersieht es, dass es weitere Gründe geben könnte, an der Wehrpflicht festzuhalten, wie z. B. die bestehenden Bündnisverpflichtungen.

Die gegenwärtige öffentliche Diskussion für und wider die allgemeine Wehrpflicht zeigt sehr deutlich, dass eine komplexe politische Entscheidung in Rede steht. Die Fragen nach Art und Umfang der militärischen Risikovorsorge, der demokratischen Kontrolle, der Rekrutierung qualifizierten Nachwuchses sowie nach den Kosten einer Wehrpflicht- oder Freiwilligenarmee sind solche der politischen Klugheit und ökonomischen Zweckmäßigkeit, die sich nicht auf eine verfassungsrechtliche Frage reduzieren lassen. Wie das BVerfG bereits 1978 festgestellt hat, ist die dem Gesetzgeber eröffnete Wahl zwischen einer Wehrpflicht- und einer Freiwilligenarmee eine grundlegende staatspolitische Entscheidung, die auf wesentliche Bereiche des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens einwirkt und bei der der Gesetzgeber neben verteidigungspolitischen Gesichtspunkten auch allgemeinpolitische, wirtschafts- und gesellschaftspolitische Gründe von sehr verschiedenem Gewicht zu bewerten und gegeneinander abzuwägen hat. Darum obliegt es zunächst dem Gesetzgeber und den für das Verteidigungswesen zuständigen Organen des Bundes, diejenigen Maßnahmen zu beschließen, die zur Konkretisierung des Verfassungsgrundsatzes der militärischen Landesverteidigung erforderlich sind. Welche Regelungen und Anordnungen notwendig erscheinen, haben diese Organe nach weitgehend politischen Erwägungen in eigener Verantwortung zu entscheiden.

Karlsruhe, den 10. April 2002