Bundesverfassungsgericht

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Prozesskostenhilfe zur Prüfung der Fortdauer der Strafvollstreckung nach 31 Jahren Haft

Pressemitteilung Nr. 80/2002 vom 13. September 2002

Beschluss vom 01. Juli 2002
2 BvR 578/02

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats einen Rechtsanwalt für einen zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten bestellt. In dem zugrundeliegenden Verfassungsbeschwerde-Verfahren geht es um die Frage der bedingten Entlassung aus der Strafhaft nach einer Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe gemäß § 57a StGB. Es ist zu prüfen, ob die Strafvollstreckung nach 31 Jahren Haft fortdauern soll.

Der Beschwerdeführer verbüßt eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen Mordes. Er befindet sich seit dem 11. September 1971 in Haft. Die besondere Schwere der Schuld gebietet inzwischen nicht mehr die Fortdauer der Freiheitsentziehung. Die zuständigen Strafvollstreckungsgerichte haben die bedingte Entlassung aber mangels günstiger Prognose für den Beschwerdeführer abgelehnt. Dieser beteuert seine Unschuld und macht geltend, nach über 30 Jahren Haft sei er körperlich und seelisch "ein zerbrochenes Wrack". Ihm werde "jede Hoffnung, jemals wieder in Freiheit zu kommen und in wohl geordnete soziale Verhältnisse zurückkehren zu können, verweigert". Er hat die Bewilligung von Prozesskostenhilfe und die Beiordnung eines Rechtsanwalts im Verfassungsbeschwerde-Verfahren beantragt.

Diesem Antrag hat das Bundesverfassungsgericht stattgegeben. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts ist erforderlich, damit der Beschwerdeführer seine Rechte angemessen wahrnehmen kann. Dies betrifft zunächst die Frage, ob die weitere Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe nach 31 Jahren Haft noch angemessen ist. Die Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe wegen festgestellter Gefährlichkeit des Verurteilten verstößt nach bisheriger Rechtsprechung grundsätzlich nicht gegen die Menschenwürde. Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat im Jahr 1977 diese Entscheidung auf dem damaligen Stand der Erkenntnisse getroffen, aber keinen Anspruch auf zeitlose Gültigkeit seiner Entscheidung erhoben. Bisher ist nicht abschließend entschieden worden, ob von Verfassungs wegen eine generelle Obergrenze für die wegen der besonderen Schwere der Schuld zu verbüßende Zeit der lebenslangen Freiheitsstrafe festzulegen ist. Der Zweite Senat hat im Jahr 1992 unter dem Gesichtspunkt hinreichender Bestimmtheit der Strafe gefordert, dass eine besondere Schwere der Schuld gegebenenfalls schon in der zur Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe wegen Mordes führenden Hauptverhandlung festgestellt werden muss. Im Vollstreckungsverfahren ist frühzeitig zu entscheiden, wie lange dem Verurteilten eine besondere Schwere der Schuld als Aussetzungshindernis entgegen gehalten werden kann. Es ist ein Gebot der Rechtsstaatlichkeit, dass für den Verurteilten die voraussichtliche Vollstreckungsdauer vorhersehbar ist und ihm die Hoffnung belassen bleibt, die Freiheit zurückzugewinnen.

Vor dem Hintergrund zunehmender Kritik an der lebenslangen Freiheitsstrafe ist im konkreten Fall möglicherweise auch zu fragen, ob eine Freiheitsentziehung, die nicht mehr wegen der Schwere der Schuld geboten ist, wegen fortbestehender Gefährlichkeit des Verurteilten als Strafe zum Schuldausgleich gerechtfertigt ist. Schließlich kann sich die Frage stellen, ob zur Abwehr im Einzelfall festgestellter Gefahren statt dessen eine Maßregel oder eine andere Maßnahme dienen könnte, deren Vollstreckung dann gegebenenfalls anders auszugestalten wäre.

Karlsruhe, den 13. September 2002