Bundesverfassungsgericht

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Erlass einstweiliger Anordnungen gegen Regelungen des Beitragssatzsicherungsgesetzes abgelehnt

Pressemitteilung Nr. 5/2003 vom 22. Januar 2003

Beschluss vom 14. Januar 2003, Beschluss vom 15. Januar 2003, Beschluss vom 15. Januar 2003
1 BvQ 51/02
1 BvQ 53/02
1 BvQ 54/02

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat die Anträge von Zahntechnikern, Apothekern und des pharmazeutischen Großhandels auf Erlass einstweiliger Anordnungen, die sich gegen das In-Kraft-Treten des Gesetzes zur Sicherung der Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung und in der gesetzlichen Rentenversicherung (Beitragssatzsicherungsgesetz - BSSichG -) vom 23. Dezember 2002 richten, mit Beschlüssen vom 14. und 15. Januar 2003 abgelehnt.

1. In den Entscheidungen geht es um Folgendes:

Das BSSichG will unter Anderem die Finanzgrundlage der Krankenversicherung bis zu einer grundlegenden Reform stabilisieren. Zwecks Einsparungen in einem Gesamtvolumen von 2,75 Milliarden Euro sieht es ein Gesamtpaket von mehreren Einzelmaßnahmen vor, darunter die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze, die Absenkung des Sterbegelds, Rabatte, Abschläge für pharmazeutische Unternehmen , Großhändler und Apotheken, Vergütungsabsenkungen sowie Nullrunden für Ärzte, Zahnärzte, Zahntechniker und Krankenhäuser. Die Antragssteller (ASt), drei Zahntechniker, vier Apotheker und eine Großhändlerin für Arzneimittel, wenden sich gegen die sie betreffenden Regelungen des BSSichG. Danach werden die am 31. Dezember 2002 geltenden Höchstpreise für abrechnungsfähige zahntechnische Leistungen um fünf Prozent abgesenkt, außerdem ist eine Nullrunde für Vergütungsvereinbarungen bei zahntechnischen Leistungen vorgesehen. Diese Maßnahmen sollen zu Minderausgaben von 0,1 Milliarden Euro führen. Das BSSichG führt weiter gestaffelte Apothekenrabatte zugunsten der Krankenkassen ein. Dabei geht es auf Dauer um einen Mindestrabatt von sechs Prozent, bei Arzneimitteln ab einem Abgabepreis von 54,81 Euro um einen Rabatt von zehn Prozent, der ab einem Abgabepreis von 820,23 Euro wieder absinkt. Damit werden Einsparungen von 0,35 Milliarden Euro erwartet. Weitere 0,6 Milliarden Euro sollen durch dreiprozentige Abschläge eingespart werden, die der pharmazeutische Großhändler den Apotheken zu gewähren hat. Die Abschläge sind von den Apothekern an die Krankenkassen weiterzuleiten. Die ASt halten die Neuregelungen für verfassungswidrig. Dem BSSichG fehle es an der erforderlichen Zustimmung durch den Bundesrat, die Eingriffe in ihre Berufsausübungsfreiheit seien unverhältnismäßig. Es gehe um ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und weitere berufliche Existenz.

2. In den Gründen der Entscheidungen heißt es:

Die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung bleiben ohne Erfolg. Geht es - wie hier - darum, schon das In-Kraft-Treten einer gesetzlichen Regelung aufzuschieben, legt das Bundesverfassungsgericht wegen der meist weit tragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren auslöst, bei der Prüfung der Voraussetzungen für ihren Erlass einen besonders strengen Maßstab an; denn es handelt sich stets um einen erheblichen Eingriff in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers. Danach haben die Anträge keinen Erfolg.

Der Ausgang der eingelegten bzw. beabsichtigten Verfassungsbeschwerden (Vb) ist offen. Die im Rahmen eines vorläufigen Rechtsschutzverfahrens gebotene Folgenabwägung ergibt, dass die Nachteile für das gemeine Wohl bei Erlass der begehrten einstweiligen Anordnungen schwerer wiegen als die nachteiligen Folgen für die ASt bei deren Ablehnung.

Jeder einzelnen Einsparungsmaßnahme des Gesetzgebers kommt für das Gemeinwohl gleiches Gewicht zu. Erst die Summe aller Sparmaßnahmen entlastet die Krankenkassen spürbar. Bei Erlass der einstweiligen Anordnungen würde ein Teil der finanziellen Entlastung der Krankenkassen nicht erreicht. Die Mehrausgaben müssten unter Umständen mit Beitragserhöhungen, der Belastung anderer Gruppen oder mit Leistungskürzungen ausgeglichen werden.

Ergeht die einstweilige Anordnung nicht, erweist sich das Gesetz aber später im Hauptsacheverfahren als verfassungswidrig, drohen den Zahntechnikern und dem Pharmagroßhandel jedenfalls bis zur Hauptsacheentscheidung wirtschaftliche Nachteile. Zu einem endgültigen und auf Dauer nicht ausgleichbaren Schaden kommt es jedoch nicht. Die Großhändler wollen den ihnen auferlegten Abschlag mit den bisher gewährten Großhandelsrabatten verrechnen und damit die Belastung an die Apotheken weitergeben. Deshalb werden sie lediglich geringfügige finanzielle Einbußen erleiden, die wirtschaftlich nicht erheblich sind. Die von den Zahntechnikern für den ganzen Berufsstand geltend gemachte Existenzbedrohung ist anhand der vorgelegten Daten nicht anzunehmen. Die Durchschnittszahlen sind angesichts der Streubreite bei den Geschäftsergebnissen und Unternehmerlöhnen für die Situation der Branche kein geeigneter Indikator. Weder den antragsstellenden Apothekern noch den Apotheken insgesamt drohen - jedenfalls vorläufig - schwere Nachteile. Aussagekräftige Unterlagen über das Gewicht der durch das BSSichG ausgelösten finanziellen Einbußen der Apotheken liegen nicht vor. Bei hochpreisigen Medikamenten werden die Erlöse um ein Drittel bis ein Halb zurückgehen. Es fehlt aber an Angaben zu ihrem Anteil am Gesamtumsatz der Apotheken zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung. Pauschale Durchschnittsberechnungen lassen insoweit keine Rückschlüsse zu. Der Senat weist darauf hin, dass die Höhe der Umsätze mit der gesetzlichen Krankenversicherung und das Geschäftsergebnis aus dem Verkauf hochpreisiger Medikamente durch Lage und Kundenkreis der jeweiligen Apotheke bestimmt werden und es keine Anhaltspunkte für signifikante Beziehungen zwischen dem Umsatz mit den gesetzlichen Krankenversicherungen und den Rohgewinnen der Apotheken gibt. Im Übrigen verbleibt dem Apotheker auch unter Abzug der Rabatte an die gesetzliche Krankenversicherung eine nicht unerhebliche Handelsspanne.

Im Rahmen der Abwägung der negativen Folgen in den jeweiligen Fallkonstellationen kommt den Nachteilen für die ASt und ihren Berufsstand insgesamt nicht das Gewicht zu, um ein Gesetz vorläufig außer Vollzug zu setzen und sein In-Kraft-Treten zu verhindern. Das Anliegen des Gesetzgebers, bis zu einer größeren Reform die gesetzlichen Krankenversicherung unter Einbeziehung zahlreicher Gruppen sofort finanziell zu entlasten, wiegt schwerer. Die negativen Folgen für die finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung treten bei einer vorläufigen Aussetzung des Gesetzes sofort ein, können später kaum oder nur unzureichend ausgeglichen werden und beeinflussen die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland. Infolge der Maßnahmen des BSSichG ist auch das gemeine Wohl nicht gefährdet. Eine ausreichende und qualitativ hochstehende Versorgung der Versicherten mit zahntechnischen Leistungen und Arzneimitteln ist nicht gefährdet, auch wenn die Zahl gewerblicher zahntechnischer Labore zurückgehen und die Apothekendichte sich verringern sollte. Ebenso kann eine generelle Gefährdung der Arzneimittelverteilung und eine Minderversorgung der Kranken infolge der dem Großhandel abverlangten Abschläge ausgeschlossen werden. Das BSSichG verändert die Rahmenbedingungen für die Preisvereinbarungen in der Handelskette zwischen Pharmaunternehmen, Großhändlern und Apotheken. Es verkleinert sich der Spielraum, den die Arzneimittelpreisverordnung dem Großhandel belässt und der bisher den Apotheken und dem Großhandel zugute kam. Das Gesamtgefüge des Pharmahandels wird sich voraussichtlich ändern, ohne dass derzeit absehbar wäre, wie sich letztlich die Belastungen des BSSichG verteilen werden.

Beschlüsse vom 14. und 15. Januar 2003 - Az. 1 BvQ 51/02, 1 BvQ 53/02 und 1 BvQ 54/02 -

Karlsruhe, den 22. Januar 2003