Bundesverfassungsgericht

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Überlange Dauer eines Strafverfahrens infolge staatlich verschuldeter Verzögerung

Pressemitteilung Nr. 12/2003 vom 21. Februar 2003

Beschluss vom 05. Februar 2003
2 BvR 327/02

Die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat zwei Strafurteile hinsichtlich ihres Rechtsfolgenausspruchs aufgehoben, nachdem der Verurteilung der Angeklagten (Bf) im einen Fall ein insgesamt fast sechs Jahre und im anderen Fall ein neun Jahre dauerndes Strafverfahren vorausgegangen waren. Die landgerichtlichen Berufungsurteile verletzen die Bf hinsichtlich des Rechtsfolgenausspruchs in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit dem im Rechtsstaat wurzelnden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Der Schuldspruch blieb jeweils unberührt. Die Ausgangsverfahren wurden an das jeweilige Landgericht zurückverwiesen.

Der Entscheidung liegen folgende Sachverhalte zugrunde:

Im ersten Fall waren die beiden Bf im September 2001 vom Amtsgericht zu einer Jugendstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt worden. Zur Tatzeit zwischen 1988 und 1992 waren die Bf Jugendliche bzw. Heranwachsende. Eine Strafanzeige gegen sie war im Februar 1996 eingegangen. Auf ihre auf das Strafmass beschränkte Berufung verringerte das Landgericht die Jugendstrafe mit Urteil vom 9. Januar 2002 auf drei Jahre. Im zweiten Fall war der Bf vom Amtsgericht im Mai 1997 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt worden. Das Strafverfahren richtete sich spätestens ab Juni 1993 gegen ihn. Auf seine Berufung verhängte das Landgericht am 12. Juni 2002 unter Aufrechterhaltung des Schuldspruchs eine Einheitsjugendstrafe von zwei Jahren und acht Monaten. Mit ihren Verfassungsbeschwerden (Vb) rügen die Bf die übermäßige Verfahrensdauer, die ihr Recht auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren verletze.

Zur Begründung heißt es in der Entscheidung der Kammer:

Soweit die Vb sich gegen die Entscheidungen der Landgerichte wenden, werden sie zur Entscheidung angenommen. Sie sind offensichtlich begründet. Die Landgerichte haben Bedeutung und Tragweite von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit dem im Rechtsstaat wurzelnden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verkannt.

Zum Prüfungsmaßstab führt die Kammer aus:

Das Rechtsstaatsgebot erfordert, Strafverfahren angemessen zu beschleunigen. Eine von den Strafverfolgungsorganen zu verantwortende erhebliche Verfahrensverzögerung verletzt den Beschuldigten in seinem Recht auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren. Ob eine rechtsstaatswidrige Verzögerung vorliegt, ist anhand einer Gesamtwürdigung der besonderen Umstände des Einzelfalls festzustellen. Dabei kommt es auf die Dauer der von den Justizorganen verursachten Verfahrensverzögerung, die Gesamtdauer des Verfahrens, die Schwere des Tatvorwurfs, den Umfang und die Schwierigkeit des Verfahrensgegenstandes sowie das Ausmaß der mit der Dauer des schwebenden Verfahrens für den Betroffenen verbundenen besonderen Belastungen an. Unberücksichtigt bleiben Verfahrensverzögerungen, die der Beschuldigte selbst verursacht hat. Eine rechtsstaatswidrige Verzögerung muss bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs berücksichtigt werden. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verlangt in einem solchen Fall angesichts der dadurch bedingten zusätzlichen negativen Belastungen und Wirkungen für den Beschuldigten sorgfältig zu prüfen, ob und mit welchen Mitteln der Staat gegen die Betroffenen (noch) strafrechtlich vorgehen kann. Die verfassungsrechtlich gebotenen Folgen aus einer Verfahrensverzögerung ergeben sich aus dem Straf- und Strafprozessrecht unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls. Dies kann von einer Einstellung des Verfahrens, einer Beschränkung der Strafverfolgung, über eine Beendigung des Verfahrens, durch das Absehen von Strafe oder eine Verwarnung mit Strafvorbehalt bis hin zu einer Berücksichtigung bei der Strafzumessung reichen. In besonders schwerwiegenden Fällen kommt sogar die Einstellung wegen eines von Verfassungs wegen anzunehmenden Verfahrenshindernisses in Betracht.

Danach halten die angegriffenen Verurteilungen in ihrem Strafausspruch einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht stand. Sie werden dem Prinzip verhältnismäßigen Strafens nicht gerecht und verletzen die Bf in ihrem Grundrecht auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren. In beiden Fällen kam es zu nicht zu rechtfertigenden, von der Justiz zu vertretenden Verfahrensverzögerungen. Diese werden in der Entscheidung im Einzelnen dargelegt. Im ersten Fall blieb zwar unbeanstandet, dass das Verfahren angesichts der Schwere der festgestellten Straftaten nicht wegen Vorliegens eines Verfahrenshindernisses oder aus anderen Gründen eingestellt worden ist. Jedoch begegneten die Strafzumessungserwägungen verfassungsrechtlichen Bedenken. Auch im zweiten Fall nahm die Kammer ein aus der Verfassung abgeleitetes Verfahrenshindernis nicht an und verwies die Sache an das Landgericht zurück. Dieses hat nunmehr unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Vorgaben darüber zu befinden, wie und gegebenenfalls mit welcher Sanktion das Strafverfahren gegen den Bf. abgeschlossen werden kann.

Im ersten Fall wurde zwar die lange Verfahrensdauer strafmildernd gewertet, jedoch durch den Hinweis auf ein angeblich unzulässiges prozessuales Verhalten der Bf wieder relativiert. Diese hatten nämlich eine Gegenstrafanzeige gegen das Tatopfer erstattet. Die sich daran anschließenden Ermittlungen wären aber auch bei schlichtem Bestreiten erforderlich gewesen und erklären nicht die rechtsstaatswidrig bedingten Verzögerungen, die allein auf eine zögerliche Sachbearbeitung durch die Justizorgane zurückzuführen sind. Die Urteilsgründe ließen außerdem nicht erkennen, ob dem Gericht bewusst gewesen war, dass die Verfahrensdauer durch rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen bedingt war und dies zusätzlich als besonderer Strafmilderungsgrund zu berücksichtigen ist. Im zweiten Fall waren zwar die Verfahrensdauer und die justizbedingten Verfahrensverzögerungen berücksichtigt worden. Der mit dem Vollzug einer Freiheitsstrafe verbundene Eingriff in die Freiheit des Bf steht aber nicht mehr in einem angemessenen Verhältnis zu dem heute bestehenden öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung. Nicht hinreichend berücksichtigt wurde, in welchem Umfang sich angesichts des erheblichen Zeitablaufs dieses Interesse abgeschwächt hat. Übersehen wurde zudem, dass der Eingriff in das Freiheitsrecht des Bf zum jetzigen Zeitpunkt um so schwerer wiegt, als dieser mittlerweile sozial integriert ist und offenbar bereits ohne den Vollzug von Freiheitsstrafe gelernt hat, ein Leben ohne Straftaten zu führen. Zu berücksichtigen wäre auch gewesen, dass der Bf mittlerweile Verantwortung für eine Familie trägt und angesichts dieser Lebenssituation die angeordnete Freiheitsstrafe ihn heute viel empfindlicher träfe als im Falle einer Entscheidung bei angemessener Verfahrensdauer.

Karlsruhe, den 21. Februar 2003