Bundesverfassungsgericht

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Begründung für die Ablehnung einer einstweiligen Anordnung wegen der Sitzverteilung im Vermittlungsausschuss

Pressemitteilung Nr. 16/2003 vom 28. Februar 2003

Beschluss vom 03. Dezember 2002
2 BvE 3/02

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat mit Beschluss vom 3. Dezember 2002 einen gegen den Deutschen Bundestag gerichteten Antrag der CDU/CSU-Fraktion (ASt) auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt, mit dem die Sitzverteilung auf der Bundestagsbank des Vermittlungsausschusses vorläufig geregelt werden sollte. Wegen des dem Verfahren zugrundeliegenden Sachverhalts wird auf die Pressemitteilung Nr. 105/2002 vom 3. Dezember 2002 verwiesen. Inzwischen liegt die Begründung für die Entscheidung des Zweiten Senats vor.

1. Der Senat hat im Wesentlichen ausgeführt:

Der Antrag im Hauptsacheverfahren, einem Organstreit, ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Der Ausgang des Hauptsacheverfahrens ist vielmehr offen.

Im Hauptsacheverfahren bedarf es einer Antwort auf die Frage, wie zu verfahren ist, wenn nach dem Wechsel zwischen den drei bislang üblichen mathematischen Zählverfahren - Hare/Niemeyer, d`Hondt und St. Laguë/Schepers - die Bundestagsmehrheit nicht abgebildet wird oder es sogar zu einem politischen Patt zwischen der die Regierung tragenden Mehrheit und der Opposition kommt. Die Antwort hängt davon ab, ob sich in diesem Fall das Mehrheits- oder aber das Proportionalitätsprinzip durchsetzen soll. Zudem bedarf der Klärung, ob der unberücksichtigte Sitz im Vermittlungsausschuss rechtmäßiger Weise der stärksten Bundestagsfraktion zugewiesen werden darf. Es ist nicht zwingend, dass an einer Koalitionsregierung immer die stärkste Fraktion beteiligt ist. Auch wäre es denkbar, den unberücksichtigten Sitz derjenigen regierungstragenden Fraktion zuzuweisen, die nach Anwendung eines der drei Zählverfahren über den höchsten Restwert verfügt, was in diesem Fall die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen begünstigt hätte.

Die im Rahmen des beantragten vorläufigen Rechtsschutzverfahrens von der Senatsmehrheit vorgenommene Folgenabwägung fällt allerdings zu Lasten der ASt aus, weshalb der Antrag abzulehnen war.

Erginge die einstweilige Anordnung, würde die autonome Entscheidungsbefugnis des Bundestags beeinträchtigt, wenn sich im Hauptsacheverfahren herausstellt, dass der angegriffene Bundestagsbeschluss vom 30. Oktober 2002 verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist. Außerdem käme der möglicherweise bestehende Anspruch der die Regierung tragenden Fraktionen auf Abbildung der Mehrheitsverhältnisse im Ausschuss zu kurz.

Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich der angegriffene Bundestagsbeschluss später aber als verfassungswidrig, wäre die ASt im Vermittlungsausschuss nicht entsprechend ihrer Stärke im Bundestag vertreten. Ein in dieser Weise fehlerhaft zusammengesetzter Vermittlungsausschuss wäre an einer unbestimmten Zahl von Gesetzgebungsvorhaben beteiligt.

Das Gebot eines formgerechten Gesetzgebungsverfahrens ist auf beiden Seiten mit demselben Gewicht zu berücksichtigen.

Wägt man die Folgen ab, überwiegen die Interessen der ASt nicht die entgegenstehenden Interessen des Antragsgegners. Ihre Rechte werden im Falle einer Ablehnung nicht gänzlich vereitelt. Sie ist mit sechs Mitgliedern auf der Bundestagsbank im Vermittlungsausschuss nicht ohne Einfluss. Sie stellt ein gutes Drittel der Sitze auf der Bundestagsbank. Bei einem Erfolg des Hauptsacheverfahrens ließe sich die gegenwärtige Sitzverteilung korrigieren. Außerdem hat die ASt nicht dargelegt, dass die politischen Mehrheiten im Vermittlungsausschuss bis zur Hauptsacheentscheidung durch ihre um einen Sitz verringerte Vertretung unvertretbar verzerrt würden. Diese von der ASt behauptete Schlussfolgerung liegt nicht auf der Hand, denn die Mitglieder der Bundesratsbank lassen sich angesichts unterschiedlicher politischer Konstellationen in den Ländern und des Gewichts der Länderinteressen im Bundesrat nicht eindeutig entweder der Regierungsmehrheit oder der Opposition zuordnen.

2. Der Richter Broß hat dem Beschluss eine abweichende Meinung beigefügt:

Danach ist der Antrag der ASt in der Hauptsache offensichtlich begründet. Deshalb besteht für eine Folgenabwägung kein Anlass. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hätte mit folgendem Inhalt Erfolg haben müssen: Bis zur Hauptsacheentscheidung des Bundesverfassungsgerichts hätte der Deutsche Bundestag seine aufgrund des Beschlusses vom 30. Oktober 2002 bestimmten Vertreter nicht in den Vermittlungsausschuss entsenden und der Vermittlungsausschuss den ergangenen Einberufungsbeschluss sowie weitere Einberufungsbeschlüsse vorläufig nicht vollziehen dürfen.

Nach Auffassung des Richters Broß verletzt die gegenwärtige Besetzung der Bundestagsbank des Vermittlungsausschusses nicht nur den Grundsatz der Spiegelbildlichkeit von Parlament und Ausschüssen, sondern auch den Grundsatz der Gleichheit der Wahl. Die Ergänzung eines anerkannten Zählverfahrens um einen mathematisch nicht begründbaren "Korrekturfaktor" ist von der Geschäftsordnungsautonomie des Bundestags nicht mehr gedeckt. Dies führt in der Hauptsache zu der Aufhebung des Beschlusses vom 30. Oktober 2002 sowie der Wahl der Vertreter des Deutschen Bundestags vom 14. November 2002. Die dadurch aufgeworfenen Rechtsfragen bedürfen nicht erst der Klärung durch das Bundesverfassungsgericht. Vielmehr drängt sich eine stattgebende Entscheidung nach allgemein anerkannter Rechtsauffassung, namentlich der Rechtsprechung des BVerfG, geradezu auf. Ist der Antrag in der Hauptsache offensichtlich begründet, ist eine fehlerhafte Besetzung des Vermittlungsausschusses auch nicht vorübergehend hinnehmbar.

Aus der weiteren Begründung des Sondervotums ergibt sich, dass der Grundsatz der Spiegelbildlichkeit nicht gebietet, die Mehrheitsverhältnisse innerhalb des Parlaments auch auf der Bundestagsbank des Vermittlungsausschusses widerzuspiegeln. Weder spricht dafür der Gesichtspunkt der Effektivität der Parlamentsarbeit noch ergibt sich aus dem Grundgesetz oder der Geschäftsordnung des Bundestags ein Anspruch auf spiegelbildliche Repräsentation der Mehrheit.

Karlsruhe, den 28. Februar 2003