Bundesverfassungsgericht

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Zur Ermittlung der Pflegebedürftigkeit in der sozialen Pflegeversicherung

Pressemitteilung Nr. 45/2003 vom 6. Juni 2003

Beschluss vom 22. Mai 2003, Beschluss vom 22. Mai 2003
1 BvR 452/99
1 BvR 1077/00

Es verstößt nicht gegen den Gleichheitssatz, dass die für Leistungen der sozialen Pflegeversicherung erforderliche Feststellung der Pflegebedürftigkeit anhand bestimmter gesetzlich abschließend benannter Verrichtungen erfolgt. Dies hat die 3. Kammer des Ersten Senats des BVerfG entschieden und deshalb die Verfassungsbeschwerden (Vb) zweier Beschwerdeführer (Bf) nicht zur Entscheidung angenommen.

Die zugrundeliegenden Sachverhalte sind vor folgendem Hintergrund zu sehen:

Die soziale Pflegeversicherung gewährt ihren Versicherten nur dann Leistungen, wenn Pflegebedürftigkeit vorliegt. Für die Feststellung des Versicherungsfalls und die Zuordnung des Pflegebedürftigen zu so genannten Pflegestufen ist unter anderem der Begriff der gewöhnlichen und regelmäßigen wiederkehrenden Verrichtungen, für die der Versicherte Hilfe benötigt, wesentlich. Das Gesetz benennt abschließend die Verrichtungen, die im Leistungsrecht bei der Unterstützung Pflegebedürftiger berücksichtigt werden. Diese Verrichtungen betreffen einzeln aufgezählte Vorgänge aus den Bereichen der Körperpflege, der Ernährung, der Mobilität und der hauswirtschaftlichen Versorgung. Darüber hinausgehende Betreuungsleistungen sind für die Beurteilung der Pflegebedürftigkeit nicht maßgebend. Beide Bf sind in der sozialen Pflegeversicherung versichert. Einer der Bf leidet an einem Psychosyndrom und lebt seit Jahren vollstationär in einem Pflegeheim. Der andere Bf ist geistig behindert und wohnt bei seinen Eltern, die ihn versorgen und betreuen. Die Bf erhalten von ihrer Pflegekasse keine Leistungen bei vollstationärer bzw. häuslicher Pflege. Vor den Sozialgerichten blieben sie ohne Erfolg. Grund war in beiden Fällen, dass der für die Pflegestufe I notwendige Hilfebedarf bei der Grundpflege von mehr als 45 Minuten wöchentlich im Tagesdurchschnitt nicht erreicht werde. Der Zeitaufwand für die allgemeine Beaufsichtigung der Bf dürfe auch bei stationärer Pflege nicht berücksichtigt werden. Dagegen richten sich die Vb. Menschen mit demenzbedingten Fähigkeitsstörungen, geistigen Behinderungen oder psychischen Erkrankungen würden gegenüber Menschen mit somatischer Erkrankung oder Behinderung verfassungswidrig benachteiligt, weil die maßgebliche gesetzliche Bestimmung den allgemeinen Aufsichts? und Betreuungsbedarf bei geistig behinderten Menschen nicht mit umfasse und der Versicherungsfall streng verrichtungsbezogen festgestellt werde. Bei vollstationärer Pflege müsse auch der Bedarf an sozialer Betreuung berücksichtigungsfähig sein.

In den Gründen der Entscheidung heißt es:

Die Vb haben keinen Erfolg. Es verstößt nicht gegen den Gleichheitssatz, dass der Begriff der Pflegebedürftigkeit nur an bestimmte abschließend aufgezählte Verrichtungen anknüpft.

Der Gesetzgeber verfügt über einen weiten Gestaltungsspielraum, wenn er festlegt, welche tatsächlichen Umstände die Leistungspflicht der sozialen Pflegeversicherung auslösen oder erhöhen. Hier geht es um die leistungsrechtlichen Grundentscheidungen eines Sozialleistungssystems. Die dabei anzustellenden sozialpolitischen Entscheidungen überprüft das BVerfG nur darauf, ob sie offensichtlich fehlsam oder mit der Wertordnung des Grundgesetzes unvereinbar sind. Da die soziale Pflegeversicherung ohnehin nur der Teilabsicherung eines Risikos dient, ist die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit besonders groß.

Die gerügte Ungleichbehandlung ist sachlich gerechtfertigt. Der Gesetzgeber hat sich dafür entschieden, dass der krankheitsbedingte Bedarf an allgemeinen Betreuungs- und Hilfeleistungen nicht die Pflegebedürftigkeit begründen kann. Dafür war zum einen der Gesichtspunkt der Gesetzesklarheit und der Anwendungssicherheit im Leistungsrecht maßgebend. Der leistungsberechtigte Personenkreis kann bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit anhand der verrichtungsbezogenen Festlegung im Gesetz relativ einfach und schnell festgestellt werden. Dies ist rechts- und sozialstaatlich vorteilhaft. Zum anderen ist mit Hilfe der engen Definition der Pflegebedürftigkeit die Beitragsbelastung dauerhaft auf einem vertretbaren Niveau zu halten. Schließlich ist auch die dadurch bedingte Leistungsstruktur der sozialen Pflegeversicherung verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Innerhalb der Ausformung der Leistungstatbestände in der sozialen Pflegeversicherung eröffnet sich für jeden Versicherten prinzipiell die gleiche Möglichkeit, Versicherungsleistungen zu erhalten. Die maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen sind auch keineswegs nur auf Menschen mit somatischen Krankheiten oder Behinderungen zugeschnitten. Vielmehr werden von ihnen psychisch Kranke und geistig Behinderte in großem Umfang erreicht. Dies belegen die bisherigen praktischen Erfahrungen und Untersuchungen. Der Gesetzgeber ist auch nicht systemwidrig und inkonsequent vorgegangen. Er musste insbesondere nicht das, was nach allgemeinem Sprachgebrauch unter "Pflege" zu verstehen ist, vollständig im Leistungsrecht berücksichtigen. Bei vollstationärer Pflege wird zwar nach dem Gesetz die soziale Betreuung von den Leistungen der sozialen Pflegeversicherung umfasst. Dies führt jedoch nicht zur Annahme einer Systemwidrigkeit. Der Gesetzgeber hat bewusst darauf verzichtet, die soziale Betreuung in die Feststellung der Pflegebedürftigkeit einfließen zu lassen, weil dadurch der Kreis der leistungsberechtigten Personen erheblich erweitert und die Finanzierbarkeit der sozialen Pflegeversicherung ohne Anhebung des Beitragssatzes nicht mehr möglich gewesen wäre.

Karlsruhe, den 6. Juni 2003