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Zur beschleunigten Anhebung des Renteneintrittsalters von Frauen

Pressemitteilung Nr. 13/2004 vom 13. Februar 2004

Beschluss vom 03. Februar 2004
1 BvR 2491/97

Die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat die Verfassungsbeschwerde (Vb) einer gesetzlich rentenversicherten Beschwerdeführerin (Bf), die sich direkt gegen die Beschleunigung der Anhebung des Renteneintrittsalters für Frauen von 60 auf 65 Jahre durch das Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz von 1996 (WFG 1996) wendet, nicht zur Entscheidung angenommen.

1. Zum Sachverhalt und rechtlichen Hintergrund:

Seit dem Jahr 1957 konnten Frauen vorzeitig ohne Abschläge zu ihrem 60. Geburtstag in Rente gehen, wenn sie die Wartezeit von 15 Jahren zurück gelegt und nach ihrem 40. Lebensjahr mehr als zehn Jahre Pflichtbeiträge geleistet hatten. Mit dem am 1. Januar 1992 in Kraft getretenen Rentenreformgesetz 1992 (RRG 1992) wurden die vorgezogenen Altersrenten stufenweise abgeschafft. Das Renteneintrittsalter für Frauen und Arbeitslose wurde auf die Vollendung des 65. Lebensjahres angehoben. Diese Anhebung sollte stufenweise erfolgen, mit dem Geburtsjahrgang 1941, also mit Wirkung für das Rentenzugangsjahr 2001 einsetzen und mit dem Geburtsjahrgang 1952, demnach im Jahr 2017 abgeschlossen sein. Ein vorzeitiger Rentenbeginn mit einem Abschlag von 0,3 v. H. je Monat über die gesamte Dauer des Rentenbezugs blieb möglich. Diese Einbuße war durch Beitragsnachzahlungen vermeidbar. Im Jahr 1996 zog der Gesetzgeber die Anhebung der Altersgrenze für Renten wegen Arbeitslosigkeit vor und beschleunigte sie. Das WFG 1996, das zum 1. Januar 1997 in Kraft trat, zog die Anhebung der Renten auch für Frauen vor und beschleunigte sie ebenfalls. § 41 Abs. 2 des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VI) wurde zu diesem Zweck durch das WFG 1996 neu gefasst. Die Anhebung wird danach im Jahre 2009 mit dem Jahrgang 1944 beendet sein. Alle betroffenen Frauen können vorzeitig mit 60 Jahren in Rente gehen. Dies führt aber zu einem Abschlag von bis zu 18 v. H.. Zum Schutz der rentennahen Jahrgänge über 55 Jahren blieb es für bis zum 7. Mai 1941 geborenen Frauen unter bestimmten Voraussetzungen bei der Regelung aus dem RRG 1992. Durch die Reform 1996 wurde schließlich der besondere Zugang von Frauen zur Altersrente ganz abgeschafft.

Die 1942 geborene Bf ist verheiratet. Ihr Ehemann ist 17 Jahre älter als sie. Nachdem er mit 65 Jahren in Rente gegangen war, kündigte sie ihr Arbeitsverhältnis, als sie die erforderliche Zahl an Pflichtbeiträgen nach ihrem 40. Lebensjahr geleistet hatte. Nach dem RRG 1992 hätte sie bei Rentenbeginn ab Vollendung ihres 60. Lebensjahres eine um 1,2 v. H. geminderte und bei einem Rentenbeginn vier Monate später die volle Rente erhalten. Nach Auskunft der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) von 1997 kann sie nach den nun maßgeblichen Bestimmungen des WFG 1996 erst mit 62 Jahren und einem Monat eine volle Rente beziehen. Gehe sie mit 60 Lebensjahren in Rente, büße sie 7,5 v. H., etwa 160 DM ein. Dies sei durch Nachzahlung von ca. 36.000 DM vermeidbar.

Mit ihrer Vb wendet sich die Bf direkt gegen § 41 Abs. 2 SGB VI in der Fassung des WFG 1996. Art. 14 Abs. 1 GG sei verletzt. Der Gesetzgeber missachte den Grundsatz des Vertrauensschutzes. Der Grundsatz der Belastungsgleichheit nach Art. 3 Abs. 1 GG sei verletzt, weil das neue Recht nur künftige Rentenbezieher und nur bestimmte Gruppen von ihnen treffe.

2. In den Gründen der Entscheidung heißt es:

Die zulässige Vb hat keine Aussicht auf Erfolg. Die angegriffene Regelung verletzt die Bf nicht in ihren Grundrechten.

Im vorliegenden Verfahren geht es nicht darum, ob die Festlegung des Regelzugangs zur Altersrente für Mann und Frau auf das vollendete 65. Lebensjahr und eine schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters für Frauen verfassungsgemäß sind. Die Kammer konnte auch offen lassen, ob die gesetzliche Gewährung einer ungeminderten Altersrente bei Vollendung eines bestimmten Lebensjahres zur grundrechtlich geschützten Rentenanwartschaft zählt. Zwar wurde zum 1. Januar 1997 der Wert des Rentenanspruchs der Bf bei vorzeitigem Renteneintritt um 6,3 v. H. gemindert. Als Inhalts- und Schrankenbestimmung im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG ist die angegriffene Regelung jedoch verfassungsgemäß. Gewichtige öffentliche Interessen tragen die Neuregelung. Beitragssätze sollten im Interesse der Funktionsfähigkeit des Rentenversicherungssystems gesenkt oder jedenfalls stabilisiert werden. Die beanstandete Regelung ist auch verhältnismäßig. Sie war geeignet, die vom Gesetzgeber angestrebten Ziele zu erreichen. Die beschleunigte Anhebung des Renteneintrittsalters ist vom weiten Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers gedeckt. Die Versicherten werden durch die angegriffene Regelung veranlasst, länger erwerbstätig zu sein und Beiträge in die Sozialkassen zu zahlen. Anreize zur Frühverrentung werden vermindert.

Dem Gesetzgeber stand auch kein milderes, die Betroffenen insgesamt weniger belastendes Mittel zur Verfügung, mit dem er seine Ziele ebenso gut erreichen konnte. Er musste nicht an anderer Stelle Einsparungen vornehmen, etwa durch Absenkung der Bestandsrenten, oder zur Finanzierung eines höheren Bundeszuschusses Steuern einführen oder erhöhen. Die Regelung ist auch zumutbar. Den für Beitragszahler, Wirtschaft und Arbeitsmarkt nachteiligen Folgen des massiven Anstiegs der Ausgaben der Rentenversicherungsträger steht auf Seiten der betroffenen Frauen ein Eingriff in eine Rentenanwartschaft und nicht in einen schon bestehenden Rentenanspruch gegenüber. Anwartschaften sind naturgemäß stärker einer Veränderung der für die Rentenversicherung maßgeblichen Verhältnisse unterworfen. Sie waren zudem bereits durch die Reform 1992 geschwächt. Auch ließ das WFG 1996 den Frauen die Wahl, entweder den Rentenabschlag hinzunehmen oder zu dessen Vermeidung länger zu arbeiten.

Die Neuregelung durch das WFG 1996 genügte auch dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes. Die Grundsatzentscheidung des Gesetzgebers für eine Anhebung des Lebensalters als Voraussetzung des Zugangs der Frauen zur Altersrente hat die Bf rechtlich nicht angegriffen. Sie wendet sich gegen eine nachteilige Abänderung einer Übergangsregelung, die diese Grundsatzentscheidung des Gesetzgebers abmildern sollte. Bei der Beseitigung von Übergangsregelungen, die aus Vertrauensschutzgründen erlassen wurden, unterliegt der Gesetzgeber im Hinblick auf den verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz besonders strengen Anforderungen. Er darf das der Übergangsregelung zu Grunde liegende Konzept nur ändern, wenn sich die für die Ausgestaltung der Übergangsregelung ursprünglich maßgebenden Umstände nachträglich geändert haben und wenn darüber hinaus schwere Nachteile für wichtige Gemeinschaftsgüter zu erwarten sind, falls die geltende Übergangsregelung bestehen bleibt. Bei befristeten Übergangsregelungen, die noch nicht zur Anwendung gekommen sind, wiegt der gesetzgeberische Eingriff jedoch weniger schwer. Dem Betroffenen bleibt ein größerer Zeitraum, sich erneut auf die neue Rechtslage einzustellen und etwa getroffene Dispositionen anzupassen. Je langfristiger Übergangsrecht angelegt ist, desto geringere Anforderungen bestehen an dessen Änderung. So verhält sich der Fall hier. Die Regelungen des RRG 1992 sollten erst mit dem Jahr 2001 einsetzen. 1996 war dieser Zeitpunkt noch fünf Jahre entfernt. Der vorzeitige Rentenbeginn für Frauen wurde lediglich zeitlich hinaus geschoben. Mit etwas höheren Abschlägen konnte weiterhin der aufgrund der alten Rechtslage geplante Zeitpunkt für die Stellung des Rentenantrags wahrgenommen werden. Die ursprüngliche Regelung war bei ihrem In-Kraft-Treten im Jahr 1992 auf einen Vollzugszeitraum von fast 28 Jahren angelegt. Der Gesetzgeber konnte sich 1996 bei der Änderung des Übergangsrechts auf neu eingetretene gewichtige Belange des Gemeinwohls berufen. Die Rentenversicherungsbeiträge stiegen nach 1992 weiter. Die Frühverrentung nahm zu, das Renteneintrittsalter sank weiter ab. Außerdem hatte die Überleitung der Renten des Beitrittsgebiets am 1. Januar 1992 die Rentenkassen erheblich belastet.

Die Abwägung der Gemeinwohlbelange mit den Interessen der betroffenen Frauen ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die den Frauen durch die Regelung zugefügten Nachteile sind noch zumutbar. Dass es zu diesen Nachteilen als Folge einer veränderten Altersgrenze kommen würde, war seit 1989 bekannt. Der Anpassungszeitraum von mindestens fünf Jahren kann bei generalisierender Betrachtungsweise als noch ausreichend angesehen werden, um schon getroffene Dispositionen an die neue Rechtslage anzupassen.

Karlsruhe, den 13. Februar 2004