Bundesverfassungsgericht

Sie sind hier:

Zum Rechtsschutz gegen den Vollzug eines Vollstreckungshaftbefehls

Pressemitteilung Nr. 47/2004 vom 4. Mai 2004

Beschluss vom 08. April 2004
2 BvR 1811/03

Ein Beschwerdeführer (Bf), der zu einer zweijährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden war, hatte mit seiner Verfassungsbeschwerde (Vb) gegen den Vollzug eines Vollstreckungshaftbefehls teilweise Erfolg. Die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat den Beschluss des Oberlandesgerichts (OLG) München aufgehoben, soweit er den Bf durch das fehlerhafte Verneinen eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 des Grundgesetzes verletzt. Insoweit wird die Sache an das OLG zur Nachholung der Sachprüfung zurückverwiesen. Im übrigen ist die Vb nicht zur Entscheidung angenommen worden. Der vom Bf weiter gestellte Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat sich damit erledigt.

1. Zum Sachverhalt:

Der zunächst für den 9. Dezember 2002 vorgesehene Strafantritt durch den Bf wurde antragsgemäß von der Staatsanwaltschaft um knapp vier Monate aufgeschoben. Auf ein Gnadengesuch des Bf stellte die Staatsanwaltschaft die Vollstreckung vorläufig ein. Bis zur Entscheidung über das Gesuch werde von der Anwendung von Zwang abgesehen. Das Gnadengesuch wurde abgelehnt. Am Abend des 3. Juni 2003 erhielt der Bf den ablehnenden Bescheid und wurde auf Grund des Vollstreckungshaftbefehls der Staatsanwaltschaft vom selben Tage festgenommen. Auf Betreiben seines Verteidigers wurde er wieder freigelassen. Absprachegemäß begab er sich am nächsten Morgen zur Staatsanwaltschaft. Diese vollstreckte den Haftbefehl, und der Bf verbüßt seitdem die Freiheitsstrafe. Der Bf beantragte festzustellen, dass Erlass und Vollzug des Haftbefehls rechtswidrig gewesen seien und dass er im Vollzug wie ein Selbststeller zu behandeln sein. Das OLG hat beide Anträge als unzulässig verworfen. Dem Bf fehle mangels Feststellungsinteresses das Rechtsschutzinteresse. Hiergegen richtet sich die Vb. Der Bf sieht sich in seinen Grundrechten aus Art. 3 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 1 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 GG verletzt.

2. In den Gründen der Entscheidung heißt es:

a) Mit dem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz ist es vereinbar, dass das für die Gewährung von gerichtlichem Rechtsschutz erforderliche Rechtsschutzinteresse eine gegenwärtige Beschwer, eine Wiederholungsgefahr oder eine fortwirkende Beeinträchtigung voraussetzt. Darüber hinaus sind Anordnungen einer Wohnungsdurchsuchung und einer Freiheitsentziehung einer gerichtlichen und verfassungsgerichtlichen Überprüfung auch dann zugänglich, wenn die angeordnete Maßnahme inzwischen durchgeführt und beendet ist. Insoweit handelt es sich um schwerwiegende Grundrechtseingriffe, bei denen der Betroffene regelmäßig die gerichtliche Entscheidung in dem von der maßgeblichen Prozessordnung vorgesehenen Verfahren kaum erlangen kann, solange die direkte Belastung andauert. Wegen der sachlichen Nähe zum Freiheitsrecht ist eine nachträgliche gerichtliche Überprüfung möglich, wenn der Betroffene ein am Maßstab einfachen Rechts so eklatant fehlerhaftes Vorgehen eines Hoheitsträgers geltend machen kann, dass objektive Willkür nahe liegt.

Indem das OLG den Feststellungsantrag des Bf als unzulässig verworfen hat, hat es das Grundrecht des Bf auf effektiven Rechtsschutz verletzt. Zwar hat das OLG im Ergebnis zu Recht eine Verletzung des Freiheitsrechts des Bf (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 104 Abs.1 und 2 GG) verneint. Die Freiheitsentziehung hat in dem zu vollstreckenden Strafausspruch eine ausreichende Grundlage. Auch das Gebot der Achtung der Menschenwürde ist nicht verletzt. Zum bloßen Objekt der Verbrechensbekämpfung unter Verletzung des verfassungsrechtlich geschützten Wert- und Achtungsanspruchs wird ein Verurteilter nicht schon dann, wenn ihm die Möglichkeit des Selbststellens genommen wird.

Das OLG hätte aber prüfen müssen, ob das Vorgehen der Staatsanwaltschaft in einem Maße unverhältnismäßig und damit rechtsstaatswidrig gewesen sein könnte, dass das Willkürverbot verletzt wäre. Auch wenn für den Eingriff in ein Grundrecht eine verfassungsrechtlich zureichende Grundlage besteht, ist bei deren Anwendung und Durchsetzung dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung zu tragen. Einen angemessenen Ausgleich zwischen dem öffentlichen Interesse, die Vollstreckung der verhängten Freiheitsstrafe sicherzustellen, und dem Interesse des Verurteilten stellen die Bestimmungen der Strafprozessordnung und der Strafvollstreckungsordnung her. Ein Vollstreckungshaftbefehl darf danach erst ergehen, wenn der Verurteilte der Ladung zum Strafantritt ohne ausreichende Entschuldigung nicht folgt oder Fluchtverdacht besteht. Der Bf hatte bisher eine wirksame Fristsetzung oder Terminbestimmung nicht missachtet. Es bestand auch kein Fluchtverdacht. Deshalb war es grob unverhältnismäßig, Zwangsmaßnahmen vorzunehmen, ohne ihm zuvor die Gelegenheit zu geben, sich dem Strafantritt freiwillig zu stellen. Er durfte bis zur Bekanntgabe der Ablehnung des Gnadengesuchs auf die vorläufige Einstellung der Vollstreckung vertrauen. Das rechtsstaatliche Gebot der Vorausschaubarkeit und Abwendbarkeit von Zwangsmaßnahmen hätte eine erneute Ladung und Fristsetzung zum Strafantritt erfordert.

b) Soweit das OLG den weiteren Feststellungsantrag des Bf, dass er im Strafvollzug wie ein Selbststeller zu behandeln sei, als unzulässig verworfen hat, liegen die Voraussetzungen für die Annahme der Vb zur Entscheidung nicht vor. Der Bf hat nicht dargelegt, welche Nachteile er derzeit hinzunehmen hätte, weil er aufgrund des Haftbefehls der Justizvollzugsanstalt zugeführt wurde. Sollte es zukünftig etwa bei der Entscheidung über Vollzugslockerungen darauf ankommen, dass er aufgrund eines nicht erforderlichen Vollstreckungshaftbefehls der Justizvollzugsanstalt zugeführt wurde, kann er etwaige nachteilige Entscheidungen der Vollzugsbehörden und Vollstreckungsgerichte fachgerichtlich überprüfen lassen.

Karlsruhe, den 4. Mai 2004