Bundesverfassungsgericht

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Zur Berücksichtigung einer „Risikoschwangerschaft“ bei der Beurteilung der Verhandlungsfähigkeit

Pressemitteilung Nr. 64/2004 vom 1. Juli 2004

Beschluss vom 08. Juni 2004
2 BvR 785/04

Als Ausdruck einer grundlegenden Wertentscheidung fordert der grundgesetzliche Schutz- und Fürsorgeanspruch der Mutter (Art. 6 Abs. 4 GG) Beachtung auch bei Auslegung und Anwendung einfachen Gesetzesrechts durch die Gerichte. Dies entschied die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts in dem Verfahren über eine Verfassungsbeschwerde (Vb), die letztlich nicht zur Entscheidung angenommen worden ist.

1. Zum Sachverhalt:

Gegen die Beschwerdeführerin (Bf) und drei weitere Angeklagte ist vor dem Landgericht (LG) ein wegen Sachzusammenhang verbundenes Strafverfahren anhängig. Der Bf werden die Beteiligung an einer Betäubungsmitteltat und drei Vergehen der Geldwäsche zur Last gelegt. Wegen ihrer "Risikoschwangerschaft" beantragte die Bf die Abtrennung des gegen sie geführten Verfahrens und seine vorläufige Einstellung. Ein von der Strafkammer eingeholtes Sachverständigengutachten bestätigte den Befund. Eine gerichtliche Verhandlungsfähigkeit sei aus medizinischer Sicht nicht gegeben, da die Gefahr einer Frühgeburt gefördert werde. In einem Anhang vermerkt das Gutachten, dass ab der 36. plus 4. Schwangerschaftswoche, also ab dem 10. Mai Verhandlungsfähigkeit bestehe. Der Vorsitzende der Strafkammer hob daraufhin den bisherigen Verhandlungstermin auf und bestimmte neuen Termin auf den 10. Mai 2004 mit Fortsetzungsterminen über den errechneten Geburtstermin hinaus. Die hiergegen erhobene Gegenvorstellung blieb erfolglos.

Mit ihrer Vb rügt die Bf die Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 und Abs. 4 GG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Es bestehe die Gefahr, dass das Kind unter den Bedingungen einer Hauptverhandlung nicht lebend zur Welt komme. Eine schwangere Angeklagte dürfe im Strafverfahren nicht gänzlich schutzlos gestellt werden. Im Wege der einstweiligen Anordnung hat das Bundesverfassungsgericht die Strafkammer angewiesen, bis zur Entscheidung in der Hauptsache keine Hauptverhandlung gegen die Bf durchzuführen. Die Hauptverhandlungstermine wurden abgesetzt. Die Bf hat am 26. Mai 2004 entbunden.

2. In den Gründen der Entscheidung heißt es:

Zwar hat die Vb zum Zeitpunkt der Entscheidung keine Aussicht auf Erfolg mehr gehabt. Hinsichtlich der Terminsladung hat sich die Hauptsache mit der Absetzung der Hauptverhandlungstermine ab dem 10. Mai erledigt. Im Rahmen der Entscheidung über die Auslagen der Bf kommt allerdings dem Grund, der zur Erledigung geführt hat, wesentliche Bedeutung zu. Insoweit ist maßgeblich, dass die Vb im Zeitpunkt ihrer Erhebung weitgehend Erfolg gehabt hätte. Schon die Terminierung der Hauptverhandlung gegen die Bf hat gegen Art. 6 Abs. 4 GG verstoßen. Sie verletzte die Bf in ihren Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG, weil das LG die Ausstrahlungswirkung des Art. 6 Abs. 4 GG grundlegend verkannt hat. Nach Art. 6 Abs. 4 GG hat jede, insbesondere jede werdende Mutter Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der staatlichen Gemeinschaft.

Das LG hat der besonderen Schutzbedürftigkeit der Bf angesichts des unmittelbar bevorstehenden Geburtstermins nicht Rechnung getragen. Möglicherweise wurde aus Gründen der Prozessökonomie und aus Furcht vor abweichenden Sachverhaltsfeststellungen an der Verfahrensverbindung festgehalten. Diesem Aspekt kommt jedoch gegenüber grundrechtlich geschützten Belangen der Bf grundsätzlich kein Vorrang zu. Das Rechtsstaatsprinzip kann einer Sachaufklärung und Strafverfolgung um jeden Preis entgegenstehen. Es kann nicht festgestellt werden, ob sich die Strafkammer darüber im Klaren war. Die Kammer hatte von Amts wegen die Verhandlungsfähigkeit der Bf zu prüfen. Sie hat sich mit den Besonderheiten des Einzelfalls, die eine uneingeschränkte Verhandlungsfähigkeit in Frage stellten, nicht auseinandergesetzt und damit die grundrechtlich geschützten Positionen der Bf nicht hinreichend bedacht. Soweit das LG nach dem Sachverständigengutachten nicht mehr von der Gefahr einer Frühgeburt ausgegangen sein sollte, hätte es die Auswirkungen der Anstrengungen der Hauptverhandlung im Übrigen auf die Gesundheit von Mutter und Kind prüfen müssen.

Karlsruhe, den 1. Juli 2004