Bundesverfassungsgericht

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Verfassungsbeschwerden gegen Risikostrukturausgleich erfolglos

Pressemitteilung Nr. 72/2004 vom 20. Juli 2004

Beschluss vom 09. Juni 2004
2 BvR 1248/03

Die Verfassungsbeschwerden (Vb) zweier Betriebskrankenkassen (Beschwerdeführerinnen; Bf), die sich gegen Ausgleichszahlungen im Rahmen des Risikostrukturausgleichs (RSA) wandten, sind von der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts nicht zur Entscheidung angenommen worden.

1. Zum Sachverhalt:

Der zum 1. Januar 1994 eingeführte RSA soll dem Ausgleich der finanziellen Auswirkungen der unterschiedlichen Risikostrukturen der Krankenkassen dienen. Krankenkassen mit einer ungünstigen Risikostruktur (z.B. hoher Anteil an beitragsfreien mitversicherten Familienangehörigen, an Mitgliedern mit unterdurchschnittlichen beitragspflichtigen Einkünften oder mit hohem Krankheitsrisiko) erhalten danach Ausgleichszahlungen zu Lasten von Kassen mit einer besseren Risikostruktur. Die Ausgleichspflichten im RSA wirken sich regelmäßig auf die Höhe der Beitragssätze der Zahler- wie der Empfängerkrankenkassen aus. Das Ausgleichsvolumen belief sich im Jahre 2002 auf fast 15 Milliarden Euro. Ab 1. Januar 1996 steht allen versicherungspflichtigen und versicherungsberechtigten Personen das Recht zur Wahl ihrer gesetzlichen Krankenkasse zu. Diesem Recht entspricht eine Aufnahmeverpflichtung der Krankenkassen. Die Bf wurden für das Streitjahr 1997 zu Ausgleichszahlungen herangezogen. Ihre Rechtsmittel blieben erfolglos. Sie rügen mit ihren Vb die Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 GG. Das Bundessozialgericht (BSG) verletze zudem ihr Recht auf den gesetzlichen Richter. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hätte gemeinschaftsrechtliche Fragen vorab entscheiden müssen.

2. In den Gründen der Entscheidung heißt es:

Die Voraussetzungen zur Annahme der Vb liegen nicht vor.

Betriebskrankenkassen sind nicht grundrechtsfähig. Die Bf werden von den angegriffenen gesetzlichen Regelungen des RSA in ihrer Funktion als Träger öffentlicher, vom Staat durch Gesetz übertragener und geregelter Aufgaben betroffen. Der Schutz in Fällen von Krankheit ist in der sozialstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes eine der Grundaufgaben des Staats. Der RSA betrifft die gesetzlichen Krankenkassen in ihrer öffentlich-rechtlichen Kernfunktion, eine auf dem Solidarprinzip gegründete soziale Krankenversicherung zu gewährleisten. Auch die Einführung "wettbewerblicher" Elemente in der Krankenversicherung führt nicht zur Zuerkennung einer partiellen Grundrechtsfähigkeit der Krankenkassen. Der "Kassenwettbewerb" dient allein der sozialstaatlichen Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherungen, als Teil der mittelbaren Staatsverwaltung öffentlich-rechtlich geregelten Krankenversicherungsschutz für die Versicherten zu gewähren.

Der Gesetzgeber hat mit der Einführung des RSA und der Kassenwahlfreiheit keine privatrechtlich geordneten Handlungsspielräume der Krankenkassen reguliert, sondern eine öffentlich-rechtliche Organisationsentscheidung für die Erledigung öffentlicher Aufgaben getroffen. Von Verfassungs wegen steht es dem Gesetzgeber grundsätzlich frei, einen "Kassenwettbewerb" einzuführen, diesen bei Bedarf zu modifizieren, ihn aber auch durch die alte oder eine neue Organisationsstruktur zu ersetzen.

Auch aus dem Selbstverwaltungsgrundsatz können Sozialversicherungsträger eine Grundrechtsträgerschaft nicht ableiten. Diese Organisationsform stellt kein Anzeichen für die Zuordnung zur Freiheitssphäre des Einzelnen oder für eine Unabhängigkeit vom Staat dar. Das Grundgesetz garantiert zudem nicht das bestehende System der Sozialversicherung. Da grundsätzlich der einzelne Bürger seine Grundrechte selbst wahrnimmt, führt auch die Annahme einer Sachwalterstellung der Krankenkassen zu Gunsten des einzelnen Mitglieds nicht zur Bejahung der Grundrechtsfähigkeit. Schließlich sind Krankenkassen nicht wie die Kirchen, Universitäten oder Rundfunkanstalten in ihrer "wettbewerblichen" Tätigkeit unmittelbar einem durch bestimmte Grundrechte geschützten Lebensbereich zugeordnet. Mangels Grundrechtsfähigkeit sind die Grundrechtsrügen der Bf unzulässig. Deshalb können die mit dem RSA zusammenhängenden Grundsatzfragen im vorliegenden Verfahren nicht geklärt werden.

Das BSG hat auch nicht das Recht der Bf auf den gesetzlichen Richter verletzt, indem es keine Vorabentscheidung des EuGH herbeigeführt hat. Das BSG hat weder seine Vorlagepflicht grundsätzlich verkannt noch ist es bewusst von der Rechtsprechung des EuGH abgewichen. Auch seinen Beurteilungsspielraum hat es nicht in unvertretbarer Weise überschritten. Das BSG hat die Vorschriften des europäischen Wettbewerbsrechts für unanwendbar gehalten, weil die gesetzlichen Krankenkassen keine Unternehmen im Sinne des europäischen Wettbewerbsrechts seien. Diese Auffassung wurde jüngst durch das Urteil des EuGH zur Festsetzung von Festbeträgen für Arzneimittel in der Sache bestätigt. Das BSG hat sich in ausreichendem Maße mit der Rechtsprechung des EuGH zur Qualifizierung von Sozialversicherungsträgern als Unternehmen auseinander gesetzt. Es hat nachvollziehbar dargelegt, welche Merkmale des deutschen Krankenversicherungssystems im Funktionsbereich des RSA seines Erachtens für das Vorliegen einer nichtwirtschaftlichen Tätigkeit der Krankenkassen sprechen. Die gesetzlichen Krankenversicherungen seien im Sinne der Rechtsprechung des EuGH keine Unternehmen, weil sie ein auf dem Grundsatz der Solidarität beruhendes obligatorisches System der sozialen Sicherheit mit rein sozialem Charakter und ohne Gewinnzweck darstellten. Die auf dieser Auffassung beruhende Nichtvorlage an den EuGH ist nicht zu beanstanden. Die Regelungen des RSA betreffen die Krankenkassen gerade nicht in ihrer Rolle als Einkäufer medizinischer Dienstleistungen. Deshalb konnte das BSG dahingestellt lassen, ob Krankenkassen dann als Unternehmen anzusehen seien, wenn sie zur Beschaffung von Sachleistungen auf dem Markt auftreten. Im Arzneimittelfestbetragsverfahren hat der EuGH bestätigt, dass der RSA als interner Finanzausgleich Solidarität innerhalb des Krankenversicherungssystems garantiert und als ein vom deutschen Gesetzgeber geschaffenes Instrument zur Verwirklichung des Solidargedankens im Sinne der Rechtsprechung des EuGH gegen die Anwendbarkeit des europäischen Wettbewerbsrechts spricht.

Karlsruhe, den 20. Juli 2004