Bundesverfassungsgericht

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Zur Anerkennung von Zeiten der Zugehörigkeit zu einem Zusatzversorgungssystem der Deutschen Demokratischen Republik

Pressemitteilung Nr. 81/2004 vom 20. August 2004

Beschluss vom 04. August 2004
1 BvR 1557/01

Die Verfassungsbeschwerde (Vb) einer Diplom-Chemikerin aus den neuen Bundesländern (Beschwerdeführerin; Bf), die mit der nachträglichen Anerkennung der Zugehörigkeit zu einem besonderen Zusatzversorgungssystem in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) eine höhere Altersrente angestrebt hatte, blieb vor dem Bundesverfassungsgericht ohne Erfolg. Die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat die Vb nicht zur Entscheidung angenommen.

1. Zum Hintergrund und Sachverhalt des Ausgangsverfahrens:

In der DDR gab es neben der gesetzlichen Sozialversicherung und der Freiwilligen Zusatzrentenversicherung (FZR) eine Vielzahl von Zusatzversorgungssystemen, die nur bestimmten Personengruppen offen standen und deren Leistungen über diejenigen der gesetzlichen Rentenversicherung deutlich hinausgingen. Die Aufnahme erfolgte in der Regel durch die Aushändigung einer entsprechenden Urkunde. Allerdings hatte das Bundessozialgericht (BSG) in einer früheren Entscheidung festgestellt, dass es in der DDR keine gleichmäßige Anerkennungspraxis für die Aufnahme in die Zusatzversorgungssysteme gab, weswegen Zugehörigkeitszeiten im Sinne des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes auch dann vorliegen sollen, wenn konkret eine Tätigkeit ausgeübt worden ist, deretwegen ihrer Art nach eine zusätzliche Altersversorgung vorgesehen war. Außerdem hatte das BSG in einer anderen Entscheidung die Zugehörigkeit der Diplom-Chemiker des Beitrittsgebiets zu dem Zusatzversorgungssystem der technischen Intelligenz (AVTI) bejaht. Deswegen sind bzw. waren in jüngster Zeit vor den Gerichten eine Vielzahl von Verfahren anhängig, mit denen die nachträgliche Anerkennung von Arbeitszeiten als Zeiten der Zugehörigkeit zu einem Zusatz- oder Sonderversorgungssystem beantragt wurde.

Der Bf war zu keinem Zeitpunkt ihrer Tätigkeit als Diplom-Chemikerin - auch nicht in ihrem Arbeitsvertrag - eine Altersversorgung in einem Zusatz- oder Sonderversorgungssystem zugesagt worden. Ihr Antrag auf nachträgliche Anerkennung ihrer Tätigkeit in einem Stickstoffwerk im Beitrittsgebiet von 1964 bis 1993 als Zeit der Zugehörigkeit zu dem Zusatzversorgungssystem der AVTI wurde abgelehnt. Rechtsmittel blieben auch vor dem BSG ohne Erfolg. Mit ihrer dagegen gerichteten Vb rügt die Bf insbesondere die Verletzung ihrer Rechte aus dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs 1 GG).

2. In den Gründen der Entscheidung heißt es:

Die Voraussetzungen für eine Annahme der Vb zur Entscheidung sind nicht gegeben. Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG liegt nach keiner Richtung vor. Es ist aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden, dass sich das BSG bei der Prüfung der Zugehörigkeit zu einer zusätzlichen Altersversorgung am Wortlaut der Versorgungsordnungen orientiert und nicht an eine Praxis oder an diese Praxis möglicherweise steuernden unveröffentlichten Richtlinien der DDR anknüpft. Damit wird zwar unter Umständen im Hinblick auf die Anerkennung der Zugehörigkeit anders verfahren als in der DDR. Die Gerichte sind aber verfassungsrechtlich nicht gehalten, die in der DDR herrschende Praxis der Aufnahme in Systeme der Zusatzversorgung, soweit sie dem Text der Zusatzversorgungssysteme entgegenstand, im gesamtdeutschen Rechtsraum fortzusetzen. Würde man unter Missachtung des Textes der Versorgungsordnungen Kriterien für die Aufnahme in die Versorgungssysteme entwickeln, würde dies zwangsläufig zu neuen Ungleichheiten innerhalb der Versorgungssysteme und im Verhältnis der Versorgungssysteme zueinander führen.

Das BSG hat diese Grundsätze im vorliegenden Fall im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG beanstandungsfrei angewandt. Die Auslegung der Rechtsvorschriften der DDR ist unter dem Gesichtspunkt der verfassungsgerichtlichen Kontrolle der Fachgerichte wie die Auslegung einfachen Rechts zu behandeln. Das Bundesverfassungsgericht kann die mit der Vb angegriffene Entscheidung folglich nur daraufhin überprüfen, ob die Auslegung der Texte der Zusatzversorgungsordnungen willkürlich ist. Es ist nicht darin berufen, sie "richtiger" als die Fachgerichte auszulegen. Für das Vorliegen von Willkür gibt es jedoch hier angesichts der Begründung der Entscheidung durch das BSG keinen Anhaltspunkt. Der Gleichheitssatz hält die Sozialgerichte nicht allgemein an, eine Ungleichbehandlung von Bürgern, die durch Normsetzung oder Verwaltungspraxis der DDR entstanden ist, zu überprüfen und gegebenenfalls zu beseitigen.

Das BSG hat auch nicht dadurch gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen, dass es in dem mit der Vb angegriffenen Urteil seine bisherige Rechtsprechung zur Zugehörigkeit von Diplom-Chemikern des Beitrittsgebiets zur AVTI geändert hat. Denn eine Änderung der Rechtsprechung ist willkürfrei, wenn sie hinreichend und auf den konkreten Fall bezogen begründet ist. Ein Gericht kann zudem auch ohne Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip von seiner früheren Rechtsprechung abweichen, selbst wenn eine wesentliche Änderung der Verhältnisse oder der allgemeinen Anschauungen nicht eingetreten ist. Danach ist die Änderung der Rechtsprechung des BSG im vorliegenden Fall nicht zu beanstanden. Das Gericht hat stichhaltige Gründe für den Wechsel seiner Rechtsauffassung genannt. Sachfremde Erwägungen, die den Willkürvorwurf begründen könnten, sind nirgends zu erkennen.

Karlsruhe, den 20. August 2004