Bundesverfassungsgericht

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Zu den Anforderungen an die Antragsbefugnis im vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren

Pressemitteilung Nr. 83/2004 vom 1. September 2004

Beschluss vom 29. Juli 2004
2 BvR 2248/03

Die Verfassungsbeschwerde (Vb) eines Bauunternehmens gegen einen Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main, das die Antragsbefugnis der Beschwerdeführerin (Bf) im vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren verneinte, hatte Erfolg. Die 1. Kammer des Zweiten Senats hob den Beschluss auf und verwies die Sache an das Oberlandesgericht zurück.

1. Zum Sachverhalt:

Die Bf lag nach der Submission mit ihrem Hauptangebot auf Platz 2 und das Unternehmen, das letztlich den Zuschlag erhielt, auf Platz 6. In der Folgezeit teilte das zuständige Staatsbauamt der Bf mit, bei der Prüfung und Wertung des Angebots sei festgestellt worden, dass in verschiedenen Positionen des Leistungsverzeichnisses wegen eines EDV-Fehlers die Mengenangaben nicht mehr eindeutig den Einheitspreisen zugeordnet werden konnten. Daher seien in der beiliegenden Ausfertigung der betreffenden Seiten des Leistungsverzeichnisses die Einheitspreise aus dem Angebot der Bf den richtigen Mengenangaben zugeordnet worden. Die Bf stimmte dieser Korrektur zu.

Nachdem die Bf davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass ihr der Zuschlag nicht erteilt werden könne, stellte sie im Nachprüfungsverfahren vor der Vergabekammer fest, dass die erhebliche Verschiebung in der Wertung Folge der vorgenommenen Korrektur ihres Angebotes war. Bestimmte Bieter hatten die fraglichen Leistungspositionen nicht missverstanden und demgemäß niedrigere Einheitspreise angesetzt, so dass die durch die Vergabestelle vorgenommene Korrektur nur bei einigen Bietern, u.a. bei der Bf, zum Tragen kam.

Nachdem die Vergabekammer nicht innerhalb der in § 113 Abs. 1 GWB vorgesehenen Frist von fünf Wochen seit Eingang des Nachprüfungsantrages entschieden hatte, erhob die Bf sofortige Beschwerde zum Oberlandesgericht. Dieses wies die sofortige Beschwerde mit der Begründung zurück, dass es an einer Antragsbefugnis der Bf fehle. Diese habe nicht im Einzelnen dargestellt, inwieweit ihr ursprüngliches Angebot auch bei fehlerfreier Wertung im Vergleich zu den Angeboten der übrigen Bieter ausreichend Chancen auf den Zuschlag gehabt hätte oder aus welchen Gründen sie daran gehindert gewesen sei, ein korrigiertes Angebot abzugeben, oder sich bei der Erstellung eines solchen Angebotes die dafür verwandte Zeit als nutzlos dargestellt hätte. Mit dem ursprünglich abgegebenen Angebot sei die Bf jedenfalls ausgeschlossen.

2. In den Gründen der Entscheidung heißt es:

Die Vb ist offensichtlich begründet. Der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts verletzt die Bf zunächst in ihrem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG. Das Oberlandesgericht überspannt die an die Antragsbefugnis nach § 107 Abs. 2 GWB zu stellenden Anforderungen mit dem Ergebnis, dass der Anspruch der Bf auf gerichtlichen Rechtsschutz wegen des von ihr beanstandeten Verstoßes gegen Vergabevorschriften in unzulässiger Weise verkürzt worden ist. Vor dem Hintergrund der spezifischen Ausgestaltung des in den §§ 102 bis 129 GWB geregelten vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahrens, das der Gewährleistung des Primärrechtsschutzes dient, müssten die in § 107 Abs. 2 GWB genannten Voraussetzungen in einer Weise ausgelegt werden, die dem betroffenen Unternehmen einen effektiven Rechtsschutz gewährleisten. An das Vorliegen der in § 107 Abs. 2 Satz 1 und 2 GWB aufgestellten Voraussetzungen werden in Literatur und Rechtsprechung aus diesem Grunde keine hohen Anforderungen gestellt.

Das Oberlandesgericht bezieht sich demgegenüber ohne nähere Begründung auf Entscheidungen anderer Oberlandesgerichte, die den Fall betreffen, in welchem ein Unternehmen, welches sich nicht mit einem Angebot am Vergabeverfahren beteiligt hat, ein Nachprüfungsverfahren beantragt. Um einen solchen Fall handelt es sich vorliegend jedoch nicht, da die Bf ein Angebot abgegeben hat. Auch ist die Eignung des gerügten Vergaberechtsverstoßes zur Beeinträchtigung der Chancengleichheit im vorliegenden Fall offenkundig. Die Bf hat gerade geltend gemacht, dass durch die unklaren Ausschreibungsunterlagen ein Verstoß gegen die Chancengleichheit vorliege. Bei einer derartigen Rüge aber ist ein (drohender) Schadenseintritt im Sinne des § 107 Abs. 2 Satz 2 GWB ohne Weiteres dargelegt. Die darüber hinausgehend vom Oberlandesgericht gestellten Anforderungen an die Darlegungslast der Bf stellen eine übermäßige und nicht durch sachliche Gründe zu rechtfertigende Erschwerung der Rechtsschutzgewährleistung dar. Sie bleiben unter Berücksichtigung des Rechtsschutzziels der Bf ohne schlüssige Erklärung.

Darüber hinaus liegt auch eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG vor, da das Oberlandesgericht ausgehend von seiner Rechtsansicht als letztinstanzliches Gericht nach Art. 234 EG-Vertrag zur Vorlage der Sache an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften verpflichtet war. Das Oberlandesgericht hat seinen bei der Frage der Vorlagepflicht bestehenden Beurteilungsspielraum in unvertretbarer Weise überschritten. Es verweist schlicht darauf, dass im vorliegenden Fall eine anders geartete Sachverhaltskonstellation gegeben sei. Aus den Gründen wird dabei nicht erkennbar, dass das Oberlandesgericht überhaupt eine Analyse der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften zu dem entscheidungserheblichen Gesichtspunkt vorgenommen hat. Demgemäß finden sich in dem angegriffenen Beschluss weder nähere Ausführungen dazu, unter welchen konkreten Gesichtspunkten die Sachverhaltsgestaltung in der Art divergiert, dass hieraus auch unterschiedliche Rechtsfolgen zu ziehen sind, noch findet eine Auseinandersetzung mit möglichen, aus dieser Entscheidung in rechtlicher Hinsicht zu ziehenden Schlüssen statt. Die vom Oberlandesgericht gegebene Begründung ist daher nicht geeignet, das Bestehen einer Vorlagepflicht in nachvollziehbarer Weise zu verneinen.

Karlsruhe, den 1. September 2004