Bundesverfassungsgericht

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Informationen zur mündlichen Verhandlung zu den Verfassungsbeschwerden betreffend Ansprüche von Versicherungsnehmern auf Überschussbeteiligung im Bereich der Lebensversicherung, insbesondere in Fällen der Bestandsübertragung

Pressemitteilung Nr. 89/2004 vom 24. September 2004

1 BvR 782/94, 1 BvR 957/96 und 1 BvR 80/95

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts verhandelt am 27. Oktober 2004 (vgl. Pressemitteilung Nr. 66/2004 vom 8. Juli 2004) drei Verfassungsbeschwerden (Vb), in denen es um Grundsatzfragen der Stellung der Versicherten im Verhältnis zu Unternehmen der Lebensversicherung geht. Die Beschwerdeführer (Bf) wollen als Versicherte der Kapitallebensversicherung erreichen, dass die auf ihre Prämienzahlungen zurückgehenden Vermögensbestandteile ihnen auf Dauer zugute kommen.

Die am Versicherungsverhältnis Beteiligten streiten über die Berechnungsgrundlage der Ansprüche. Es geht den Bf um die in die Berechnung einzubeziehenden Faktoren und um den Zugang zu den konkreten Daten, auf denen die Berechnungen der Versicherungsunternehmen beruhen. Den Versicherten bieten sich zwar verschiedene Möglichkeiten, vor den Gerichten Rechtsschutz zu suchen: Ihre vermögensrechtlichen Ansprüche aus dem Versicherungsvertrag können sie vor den Zivilgerichten verfolgen. Daneben sieht das Versicherungsaufsichtsrecht eine öffentlich-rechtliche Versicherungsaufsicht vor. Insoweit kann der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten gegeben sein. Die Versicherungsunternehmen sind einerseits ihren Aktionären, aber andererseits auch ihren Versicherten verpflichtet. Die Versicherungsaufsicht soll Einseitigkeiten der Interessenberücksichtigung oder gar Missbräuche verhindern. Die Versicherten meinen jedoch, dass ihre Anliegen auch prozessual zu kurz kommen könnten, weil die im Versicherungsverhältnis bestehenden mehrpoligen Interessenkollisionen weder mit den Handlungsformen des Zivilrechts angemessen bewältigbar seien noch das öffentlich-rechtliche Versicherungsaufsichtsrecht sie hinreichend schütze. Versicherungsnehmer haben in der Lebensversicherung Prämien zu zahlen. Sicherheitszuschläge können zur so genannten Prämienüberhebung führen. Um Prämienzahlungen, die sich später als überhöht erweisen, letztlich wieder den Versicherten zuführen zu können, müssen die Versicherungsunternehmen die Versicherungsnehmer an den von ihnen insoweit erzielten Überschüssen kraft Gesetzes beteiligen. Das Versicherungsaufsichtsrecht verlangt von den Versicherern schon frühzeitig Vorsorge für die Überschussbeteiligung (Rückstellungen für die Beitragsrückerstattung). Die Rückstellungen sollen insbesondere sichern, dass die entsprechenden Vermögenswerte den Versicherten erhalten bleiben und nicht an die Aktionäre der Versicherungsgesellschaften ausgekehrt werden.

Im ersten Fall (1 BvR 782/94) wendet der Bf sich gegen das Risiko, dass sein Anspruch auf Überschussbeteiligung durch Übertragung des Bestands der Lebensversicherungen an eine andere Gesellschaft vermindert wird. Die Wirksamkeit einer solchen Bestandsübertragung hängt nicht von der Zustimmung der Gläubiger ab ( § 14 Abs.1 Satz 5 Versicherungsaufsichtsgesetz a.F., heute Satz 4), die Anwendung des § 415 Abs.1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ist ausgeschlossen. Allerdings bedarf die Bestandsübertragung der Genehmigung durch das Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen (BAV; seit 2002: Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht). Der Versicherer übertrug vorliegend den Versicherungsbestand seines Unternehmens auf eine eigens zu diesem Zweck gegründete 100%-ige Tochtergesellschaft. Die Übertragung umfasste die zum Versicherungsbestand gehörenden technischen Passiva und die zur Bedeckung dienenden Aktiva. Letztere machten 98,88 % des Buchwertes aller vor der Bestandsübertragung vorhandenen Aktiva aus. Der Verbleib von Werten bei dem übertragenden Unternehmen wurde unter anderem damit begründet, dass diese Rückstellungen für Pensionen und ähnliche Verpflichtungen erforderlich seien. Dies führt zu dem Streit, ob und in welcher Höhe Vermögenswerte bei Bestandsübertragungen zurück behalten werden dürften. Im Umfang des Zurückbehalts fehlt dem neuen Versicherer eine mögliche Überschussquelle. Seine Beteiligung am Überschuss war jedoch deutlich höher, als er nur auf der Grundlage der gebotenen Mindestsicherung gewesen wäre (Solvabilitätsspanne). Durch die Bestandsübertragung hat sich möglicherweise der Anspruch des Bf auf Überschussbeteiligung verringert. Er hat vor dem - damals erstinstanzlich zuständigen - Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) die Genehmigung der Bestandsübertragung durch das BAV erfolglos angegriffen. Mit seiner Vb rügt der Bf die Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG. Der im Versicherungsaufsichtsrecht vorgesehene Ausschluss der Gläubigerzustimmung für die Bestandsübertragung schränke das Eigentumsrecht ein, was mit wirtschaftlichen Interessen des Versicherers nicht zu rechtfertigen sei. § 14 VAG sei auf den ursprünglichen Zweck, die Sanierung von bankrottreifen Versicherungsunternehmen zu ermöglichen, zurückzuführen. Jedenfalls sei der Verlust der Rechte der Versicherten verfahrensmäßig zu kompensieren.

Im zweiten Fall (1 BvR 957/96) geht es um die Übertragung des Bestands aus einem Lebensversicherungsverein auf Gegenseitigkeit auf eine neu gegründete Lebensversicherungs AG. Diese Bestandsübertragung führt zum Verlust der Vereinsmitgliedschaft und - soweit Vermögen beim grundsätzlich fortbestehenden Verein verbleibt - ggf. auch zu einer Minderung des Überschussanspruchs. In diesem Fall geht es jedoch um die Höhe des Entgelts, das in einem solchen Fall als Ausgleich für den Verlust der Mitgliedschaft an die ehemaligen Vereinsmitglieder zu zahlen ist. Nach einer damals geltenden Regelung des Versicherungsaufsichtsgesetzes war vorgesehen, dass das vereinbarte Entgelt ggf. durch das Landgericht (LG) festgesetzt werden könnte und müsste. Das LG hatte den Streit um die Entgelthöhe bis zur Entscheidung des BVerwG ausgesetzt. Die Bestandsübertragung, deren Genehmigung auch die in dem Übertragungsakt vorgesehenen Entgeltzahlungen an die ehemaligen Vereinsmitglieder umfasst, haben die Bf vor dem BVerwG ohne Erfolg angegriffen. Mit ihrer Vb rügen die Bf die Verletzung ihres Grundrechts aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG. Sie seien durch die Bestandsübertragung von den sich aus der Vereinsmitgliedschaft herleitenden Werten getrennt worden. Ihre schuldrechtlichen Ansprüche aufgrund der Mitgliedschaftsrechte seien durch Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG geschützt. Der Ausschluss des § 415 BGB greife in ihr Eigentumsrecht ein. Das BVerwG habe die Frage der Angemessenheit des Entgelts an die Landgerichte weitergereicht, statt selbst eine positive Entscheidung über den Maßstab der Angemessenheit zu treffen. Dies führe zu einer Art "Verschiebebahnhof".

Die dritte Vb (1 BvR 80/95) richtet sich gegen zivilgerichtliche Urteile über die Höhe der an den Versicherten schon ausgezahlten Überschussanteile. Die Bf halten den an sie ausgeschütteten Gewinnanteil für zu niedrig. Die ausgekehrten Überschüsse bezögen die stillen Reserven des Versicherungsunternehmens nicht ein. Mit ihren Rechtsmitteln blieben sie vor den Zivilgerichten ohne Erfolg. Sie rügen die Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG. Der Anspruch auf Überschussbeteiligung sei nicht effektiv rechtlich abgesichert. Das für den Versicherten erforderliche Schutzniveau werde nicht erreicht.

Karlsruhe, den 24. September 2004