Bundesverfassungsgericht

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Tage der offenen Tür Verhandlungen des Zweiten Senats am 9. und 10. November 2004

Pressemitteilung Nr. 90/2004 vom 29. September 2004

Im Rahmen der jährlich stattfindenden Tage der offenen Tür verhandelt der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts am

Dienstag, 9. November 2004,
und Mittwoch, 10. November 2004,
im Sitzungssaal des Bundesverfassungsgerichts,
Schlossbezirk 3, 76131 Karlsruhe

folgende Verfahren:

1. Dienstag, 9. November 2004, 10.00 Uhr: Verfassungsmäßigkeit des Sechsten Gesetzes zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes (6. HRGÄndG) vom 8. August 2002 - 2 BvF 1/03 -

Das 6. HRGÄndG, das am 15. August 2002 in Kraft getreten ist, fasst mehrere Einzelregelungen zusammen. Kernpunkt der Neuregelung ist der Grundsatz der Gebührenfreiheit des Studiums bis zum ersten berufsqualifizierenden Abschluss sowie des Anschlussstudiengangs, der zu einem weiteren berufsqualifizierenden Abschluss führt. Außerdem verpflichtet das 6. HRGÄndG die Länder, an den Hochschulen Studierendenschaften einzurichten und bestimmt deren Aufgaben. Das 6. HRGÄndG beendet die mit dem 4. HRGÄndG eingeführte Erprobungsphase für Bachelor- und Masterstudiengänge und überführt sie in das Regelangebot der Hochschulen. Die Länder müssen diese Vorschriften innerhalb von drei Jahren nach deren In-Kraft-Treten in Landesrecht umsetzen. Die Länder Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt und Saarland, die Freie und Hansestadt Hamburg sowie die Freistaaten Bayern und Sachsen haben Normenkontrollklage erhoben. Sie sind der Auffassung, dass das 6. HRGÄndG wegen der Regelung über die Bildung der Studierendenschaften der Zustimmung des Bundesrates (Art. 84 Abs. 1 GG) bedürfe. Die Länder sind weiter der Meinung, dass dem Bund für das Gesetz keine Gesetzgebungskompetenz zustehe. Für das Studiengebührenverbot und die Bildung verfasster Studierendenschaften komme zwar die Rahmengesetzgebungskompetenz des Bundes für die allgemeinen Grundsätze des Hochschulwesens (Art. 75 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a GG) in Betracht. Die Erforderlichkeit bundeseinheitlicher Festlegung der Studiengebührenfreiheit sei jedoch mit der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse nicht zu rechtfertigen. Das Eingreifen des Bundesgesetzgebers sei auch nicht zur Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse erforderlich. Auch bei der Einrichtung von Studierendenschaften missdeute der Gesetzgeber die Anforderungen an die Erforderlichkeit im Sinne einer allgemeinen Gemeinwohlklausel. Zudem seien die zulässigen Grenzen der Rahmengesetzgebungskompetenz überschritten.

Zu dem Normenkontrollverfahren haben der Bundesrat, die Bundesregierung, die Landesregierung des Freistaats Thüringen sowie der Landtag Baden- Württemberg und der Thüringer Landtag Stellung genommen.

2. Mittwoch, 10. November 2004, 10.00 Uhr: Global Positioning System (GPS) im Strafverfahren - 2 BvR 581 /01 -

Die Verfassungsbeschwerde (Vb) richtet sich gegen die Verwendung des GPS neben anderen, zeitgleich durchgeführten, Observationsmaßnahmen in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren und gegen die Verwertung der aus der GPS- Observation gewonnen Erkenntnisse. Bei GPS handelt es sich um ein satellitengestütztes funkgesteuertes Navigationssystem, mit dessen Hilfe die räumliche Position eines Objekts bestimmt werden kann. Die Technik ermöglicht keine Wort- oder Bildaufzeichnungen, sondern lediglich eine Bestimmung von Standort und Geschwindigkeit des Observierungsobjekts. Dieses mittlerweile handelsübliche Ortungssystem wird auch von Privatpersonen als Navigationshilfe genutzt. Durch das Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität (OrgKG) vom 15. Juli 1992 wurden in § 100c Strafprozessordnung (StPO) Ermächtigungsgrundlagen für den Einsatz technischer Hilfsmittel zu Zwecken der Strafverfolgung geschaffen. Die Vorschrift erlaubt in ihrem Absatz 1 (siehe Anlage) neben der Herstellung von Lichtbildern und Bildaufzeichnungen die Verwendung sonstiger besonderer, für Observationszwecke bestimmter technischer Mittel zur Erforschung des Sachverhalts oder zur Ermittlung des Aufenthaltsorts des Täters. Die am 1. November 2000 in Kraft getretene Regelung des § 163f StPO (siehe Anlage) ergänzt und begrenzt § 100c StPO für den Fall längerfristiger Observationen. Erkenntnisse zur Anwendungshäufigkeit der Ermächtigung des § 100c Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe b 2. Alternative StPO in der Praxis sind nicht verfügbar.

Zum Ausgangsverfahren: Der Beschwerdeführer (Bf) verübte 1995 als Mitglied der so genannten "Antiimperialistischen Zelle" in Fortführung der von der Rote-Armee- Fraktion zu dieser Zeit bereits aufgegebenen Strategie des bewaffneten Kampfs vier Sprengstoffanschläge. Das Oberlandesgericht (OLG) hat ihn deshalb im Jahr 1999 unter anderem wegen gemeinschaftlichen Mordversuchs in vier Fällen, jeweils in Tateinheit mit vorsätzlichem Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 13 Jahren verurteilt. Bei der Beweiswürdigung stützte sich das OLG maßgeblich auf Erkenntnisse aus verschiedenen, gegen den Bf und den Mitangeklagten des Ausgangsverfahrens durchgeführten Observationsmaßnahmen. Unter anderem war in den PKW des Mitangeklagten ein Empfänger des GPS installiert worden, mit dessen Hilfe die räumliche Position des Fahrzeugs bis auf 50 m genau bestimmt werden konnte, nachdem der Bf und der Mitangeklagte zuvor zwei in das Fahrzeug eingebaute Peilsender entdeckt und funktionsunfähig gemacht hatten. Durch die Auswertung der über ca. 2 ½ Monate erhobenen Positionsdaten konnten die Fahrbewegungen, Standorte und Standzeiten des PKW lückenlos nachvollzogen werden. Die Revision des Bf gegen das Urteil des OLG blieb erfolglos. Der Bundesgerichtshof (BGH) sieht in der Einbeziehung des GPS in den Anwendungsbereich des § 100c Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe b StPO keinen Verstoß gegen Wertentscheidungen des Grundgesetzes. Mit seiner Vb rügt der Bf eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG. Die GPS-Überwachung greife besonders intensiv in seine grundrechtlich geschützte Privatsphäre ein und bedürfe einer gesonderten gesetzlichen Ermächtigung. Die gleichzeitige Durchführung verschiedener gegen ihn bzw. den Mitangeklagten des Ausgangsverfahrens gerichteter Observationsmaßnahmen sei verfassungswidrig gewesen. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse hätten nicht verwertet werden dürfen.

Zu dem Verfahren haben die Bundesregierung, der BGH und der Generalbundesanwalt Stellung genommen.

Interessierte Bürgerinnen und Bürger, die an den Verhandlungen teilnehmen möchten, werden gebeten, sich schriftlich anzumelden (Postfach 17 71, 76006 Karlsruhe, z. Hd. Herrn Kambeitz; Fax: 0721/9101-461). Bei der Anmeldung sind Name, Vorname, Geburtsdatum und eine Telefon- oder Faxnummer für Rückfragen anzugeben.

Karlsruhe, den 29. September 2004

Anlage zur Pressemitteilung Nr. 90/2004 vom 29. September 2004:

§ 100 c Abs. 1 Nr. 1 Strafprozessordnung

(1) Ohne Wissen des Betroffenen 1. dürfen a) Lichtbilder und Bildaufzeichnungen hergestellt werden,

b) sonstige besondere für Observationszwecke bestimmte technische Mittel zur Erforschung des Sachverhalts oder zur Ermittlung des Aufenthaltsortes des Täters hergestellt werden, wenn Gegenstand der Untersuchung eine Straftat von erheblicher Bedeutung ist, und

wenn die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsortes des Täters auf andere Weise weniger erfolgversprechend oder erschwert wäre,

2. … 3. …

§ 163 f Strafprozessordnung

(1) Liegen zureichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür vor, dass eine Straftat von erheblicher Bedeutung begangen worden ist, so darf eine planmäßig angelegte Beobachtung des Beschuldigten angeordnet werden, die

  1. durchgehend länger als 24 Stunden dauern oder
  2. an mehr als zwei Tagen stattfinden

soll (längerfristige Observation).

Die Maßnahme darf nur angeordnet werden, wenn die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsortes des Täters auf andere Weise erheblich weniger Erfolg versprechend oder wesentlich erschwert wäre. Gegen andere Personen ist die Maßnahme zulässig, wenn auf Grund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, dass sie mit dem Täter in Verbindung stehen oder eine solche Verbindung hergestellt wird, dass die Maßnahme zur Erforschung des Sachverhalts oder zur Ermittlung des Aufenthaltsortes des Täters führen wird und dies auf andere Weise erheblich weniger Erfolg versprechend oder wesentlich erschwert wäre.

(2) Die Maßnahme darf auch durchgeführt werden, wenn Dritte unmittelbar betroffen werden.

(3) Die Maßnahme bedarf der Anordnung durch die Staatsanwaltschaft; bei Gefahr im Verzug darf sie auch durch ihre Hilfsbeamten (§ 152 des Gerichtsverfassungsgesetzes) angeordnet werden. Hat einer der Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft die Anordnung getroffen, so ist unverzüglich die staatsanwaltschaftliche Bestätigung der Anordnung zu beantragen. Die Anordnung tritt außer Kraft, wenn sie nicht binnen drei Tagen von der Staatsanwaltschaft bestätigt wird.

(4) Die Anordnung ist unter Angabe der maßgeblichen Gründe aktenkundig zu machen und auf höchstens einen Monat zu befristen. Die Verlängerung der Maßnahme bedarf einer neuen Anordnung, die nur durch den Richter getroffen werden darf.