Bundesverfassungsgericht

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Zum Anspruch auf rechtliches Gehör und effektiven Rechtsschutz

Pressemitteilung Nr. 98/2004 vom 11. November 2004

Beschluss vom 19. Oktober 2004
2 BvR 779/04

Die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat auf die Verfassungsbeschwerde (Vb) einer Diplomjuristin der ehemaligen DDR, die einen Rehabilitierungsantrag wegen einer im Jahr 1972 erfolgten psychiatrischen Untersuchung und Unterbringung in der Psychiatrie gestellt hatte, die ablehnenden Beschlüsse des Landgerichts (LG) und des Oberlandesgerichts (OLG) aufgehoben. Die Entscheidungen der Fachgerichte verletzen die Beschwerdeführerin (Bf) in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip und ihrem grundrechtsgleichen Recht auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG. Die Sache wurde an das OLG zurückverwiesen.

Zum Sachverhalt:

Die Bf, die in der ehemaligen DDR den Abschluss als Diplomjuristin erworben hatte, wurde 1971 in den richterlichen Vorbereitungsdienst der DDR eingestellt. Nach einer Abschlussbeurteilung vom 10. November 1972 sollte die Bf den psychischen Belastungen des Richterberufes nicht gewachsen sein und deshalb aus den Rechtspflegeorganen ausscheiden. Ein mit dem Datum 21. November 1972 versehener Aufhebungsvertrag weist die Beendigung des Vorbereitungsdienstes zum 31. Dezember 1972 aus. Im Januar 1973 kam es zu dem Abschluss eines neuen Aufhebungsvertrages, der den Vorbereitungsdienst zum 28. Februar 1973 beendete. Ende des Jahres 2001 beantragte die Bf Rehabilitierung nach § 2 Rehabilitierungsgesetz (StrRehaG) wegen einer am 21. November 1972 erfolgten psychiatrischen Untersuchung und einer im Dezember 1972 erfolgten 4-tägigen Unterbringung in der Psychiatrie. Die Bf trug vor, dass durch diese Maßnahmen der Forderung nach Unterzeichnung des Aufhebungsvertrages Nachdruck verliehen werden sollte. Die ihr entgegengehaltene psychische Labilität sei nur vorgeschoben worden, um sie nicht in den richterlichen Dienst übernehmen zu müssen. Der Rehabilitierungsantrag blieb vor dem LG und OLG erfolglos. Mit ihrer Vb rügt die Bf die Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG, 3 Abs. 1 GG, 20 Abs. 3 GG und Art. 104 GG.

In den Gründen der Entscheidung heißt es im Wesentlichen:

Die Voraussetzungen für eine der Vb stattgebende Entscheidung der Kammer liegen vor. Die Vb ist offensichtlich begründet.

1. Die Bf ist in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt. Dem Anspruch eines Beteiligten auf Gewährung rechtlichen Gehörs entspricht die Pflicht des Gerichts, Anträge und Ausführungen der Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei seiner Entscheidung in Erwägung zu ziehen. Der angegriffene Beschluss des LG lässt nicht erkennen, dass es den Vortrag der Bf überhaupt einer konkreten Bewertung unterzogen hat. Das LG hat sich mit den Einzelheiten des Vortrags der Bf und den von ihr vorgelegten Unterlagen nicht auseinandergesetzt.

Auch das OLG lässt wesentlichen Vortrag der Bf unberücksichtigt. Es übergeht im Rahmen seiner tatsächlichen Würdigung eine Reihe von objektiv belegten Umständen, die für die Glaubhaftigkeit der Sachverhaltsdarstellung der Bf sprechen. Soweit das OLG es für nicht ausgeschlossen hält, dass die psychiatrische Untersuchung vom 21. November 1972 unter fürsorgerischen Gesichtspunkten erfolgt sei, verkennt es den Vortrag der Bf grundlegend. Allein auf der Grundlage des Vortrags der Bf - und nur von diesem ist das OLG bei seiner Bewertung ausgegangen - kann der Schluss auf eine fürsorgerische Untersuchung nicht gezogen werden, da die Bf gerade eine psychische Labilität in Frage gestellt hat. Soweit das OLG in Bezug auf die stationäre Untersuchung der Bf im Dezember 1972 ohne nähere Begründung ausführt, dass sie sich dieser freiwillig gestellt habe, wird gleichfalls der von der Bf vorgetragene Gesamtzusammenhang ausgeblendet. Sie hat darauf verwiesen, dass die Untersuchung auf Anweisung des Justizministeriums erfolgte. Die Nichtbefolgung der Anweisung hätte das Ende der Richterassistententätigkeit bedeutet.

2. Die Beschlüsse des LG und OLG verletzen die Bf ferner in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip. Das Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes enthält auch die Gewährleistung wirkungsvollen Rechtsschutzes, der die grundsätzlich umfassende und rechtliche Prüfung des Verfahrensgegenstandes ermöglichen muss. § 2 StrRehaG verfolgt mit seinen weiten Formulierungen den Zweck, einem durch den Missbrauch der Psychiatrie besonders benachteiligten Personenkreis einen Schlüssel zur Rehabilitierung in die Hand zu geben. Dementsprechend werden die Voraussetzungen dieser Bestimmung weit ausgelegt. So werden etwa nicht nur die Fälle einer zwangsweisen Einweisung in eine psychiatrische Anstalt, sondern auch die der Einweisung auf einer scheinbar freiwilligen Grundlage erfasst. Für die Feststellung dieser Voraussetzungen gilt der Amtsermittlungsgrundsatz. Das Gericht hat von sich aus die zur Aufklärung des Sachverhalts notwendigen Maßnahmen zu treffen.

Die Fachgerichte haben ihre Pflicht zur Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes verletzt. Denn sie sind der ihnen obliegenden Amtsermittlungspflicht nicht hinreichend nachgekommen. Allein auf der Grundlage des von der Bf unterbreiteten Sachverhalts bestand Anlass für weitere Ermittlungen, von denen ohne jegliche Begründung abgesehen wurde. Um sich ein Bild von der Glaubwürdigkeit der Bf zu verschaffen, hätte das Gericht sie zumindest persönlich anhören müssen. Auch ist nicht auszuschließen, dass von der Vernehmung der von der Bf benannten Kaderleiter des Bezirksgerichts und der Kreisdirektorin Erkenntnisse in Bezug auf die Hintergründe der psychiatrischen Untersuchung hätten gewonnen werden können. Im Übrigen hätte es für die Fachgerichte durchaus nahe gelegen, einen Versuch zu unternehmen, potentiell ergiebige Akten - etwa die Personalakte der Bf sowie die Krankenunterlagen der psychiatrischen Kliniken - beizuziehen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass zumindest einige dieser Akten in entsprechenden Archiven aufbewahrt werden.

Karlsruhe, den 11. November 2004