Bundesverfassungsgericht

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Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen das Anhalten einer an einen Strafgefangenen adressierten Informationsbroschüre zum Strafvollzug

Pressemitteilung Nr. 118/2004 vom 30. Dezember 2004

Beschluss vom 15. Dezember 2004
2 BvR 2219/01

Auf die Verfassungsbeschwerde (Vb) eines Hochschullehrers und Leiters des Strafvollzugsarchivs einer Universität, der sich gegen das Anhalten einer an einen Strafgefangenen gerichteten Informationsbroschüre zum Strafvollzug wandte, hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts den ablehnenden Beschluss des Landgerichts (LG) aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung an das Landgericht zurückverwiesen. Der Beschluss des LG verletzt den Beschwerdeführer (Bf) in seinem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.

Sachverhalt:

Auf die Bitte eines Strafgefangenen hin adressierte der Bf an diesen ein Exemplar der Broschüre "Positiv in Haft". Die 128 Seiten umfassende Broschüre wird von der Deutschen Aidshilfe e.V. herausgegeben. Sie enthält neben einem medizinischen Teil auch einen Teil zu rechtlichen Fragen des Strafvollzugs, der als praktische Hilfestellung für Gefangene konzipiert ist und unter anderem "Musteranträge" enthält. Der Bf ist im Impressum der Informationsschrift nicht aufgeführt. Die Einleitung zum rechtlichen Teil der Broschüre enthält jedoch den ausdrücklichen Hinweis, dass die nachfolgenden Informationen aus der Arbeit des Strafvollzugsarchivs der Universität hervorgegangen seien.

Die Justizvollzugsanstalt hielt die Broschüre an und leitete sie nicht an den Strafgefangenen weiter, da die Broschüre Informationen enthalte, die die Gefangenen zu einem vollzugsablehnenden Verhalten und zu einer missbräuchlichen Handhabung des Beschwerderechts veranlassen könnten. Der gegen das Anhalten der Broschüre gerichtete Antrag des Bf blieb vor dem Landgericht und dem Oberlandesgericht ohne Erfolg.

Mit seiner Vb rügt der Bf eine Verletzung seiner Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG).

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

1. Die Verbreitung der in der Broschüre abgedruckten Informationen fällt sachlich in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit. Der Bf ist auch selbst in seinem Grundrecht auf Meinungsfreiheit betroffen. Dem steht nicht entgegen, dass er im Impressum der Broschüre nicht aufgeführt ist. Art. 5 Abs. 1 GG schützt die Freiheit der Äußerung und Verbreitung von Meinungen auf der einen, die Informationsfreiheit auf der anderen Seite. Dies sind einander ergänzende Elemente eines Kommunikationsprozesses. Übersendet jemand einem anderen zu dessen Information und Meinungsbildung einen gedruckten Text, so hängt der kommunikationsrechtliche Schutz nicht davon ab, dass es sich um einen vom Übersender verfassten, herausgegebenen oder auf andere Weise mitverantworteten Text handelt. Der Bf hat die Broschüre einem Strafgefangenen auf dessen gezielte Bitte um Information hin übersandt. Damit erfolgte die Übersendung in einem von Art. 5 Abs. 1 GG geschützten Kommunikationszusammenhang. Der Bf hat als Leiter der Einrichtung, aus deren Arbeit der rechtliche Teil der Broschüre hervorgegangen ist, auch nicht nur in der Rolle eines interesselosen Vermittlers und damit nicht außerhalb des Schutzbereichs des Art. 5 Abs. 1 GG gehandelt.

2. Die Entscheidung des Landgerichts trägt der Bedeutung von Art. 5 Abs. 1 GG für die Auslegung und Anwendung des Strafvollzugsgesetzes (StVollzG) nicht hinreichend Rechnung. Nach § 70 Abs. 2 Nr. 2 StVollzG darf einem Gefangenen der Besitz von Büchern und anderen Gegenständen zur Fortbildung verwehrt werden, wenn anderenfalls das Ziel des Vollzugs oder die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt gefährdet würde. Wird ein Strafgefangener in sachlicher, vollständiger und juristisch vertretbarer Weise in einer Broschüre über seine Rechte informiert, so begründet dies keine Gefahr im Sinne des § 70 Abs. 2 Nr. 2 StVollzG. Um verbotene Rechtsberatung handelt es sich im vorliegenden Fall unstreitig nicht. Information, die den Gefangenen über seine Rechte belehrt, stellt auch nicht schon aus diesem Grund - etwa weil sie die Einlegung von Rechtsbehelfen durch Gefangene wahrscheinlicher machen und damit für die Anstalt Arbeitsaufwand erzeugen kann - eine Gefahr im Rechtssinne dar.

Das LG hat seine Beurteilung der angehaltenen Broschüre als gefährlich vor allem auf die darin enthaltenen Informationen zur rechtlichen Behandlung der Flucht gestützt. Diese könne bei den Gefangenen den Eindruck erwecken, Flucht sei eine richtige Handlungsweise. Diese Schlussfolgerung des LG findet im Text der Broschüre keine Stütze. In der Broschüre wird lediglich die herrschende Auffassung zur Sanktionierbarkeit von Flucht in Zweifel gezogen. Dies schließt nicht die Bewertung des fraglichen Verhaltens als richtig ein. Im Übrigen hat sich das Gericht auch nicht mit der Frage auseinander gesetzt, ob der von ihm angenommenen Gefahr nicht durch mildere Mittel - etwa durch Schwärzen oder durch Entfernung der beanstandeten Passage aus der umfangreichen Broschüre - hätte begegnet werden können.

Karlsruhe, den 30. Dezember 2004